Mord in Dorchester Terrace: Ein Thomas-Pitt-Roman (German Edition)
selbst. Ganz offensichtlich hatte Lord Salisbury zwar Wort gehalten, sah aber nach wie vor keinen Grund, Herzog Alois von seinem Besuch abzuraten.
»Tut mir leid, das geht auf keinen Fall«, gab ihm der Minister mit finsterer Miene zu verstehen. »Das wäre zu diesem Zeitpunkt gänzlich unmöglich. Wir würden damit vor allen potenziellen Attentätern der Welt die weiße Fahne schwenken und ganz Europa signalisieren, dass wir nicht in der Lage sind, die Sicherheit von Angehörigen fremder Herrscherfamilien zu gewährleisten, die unsere Königsfamilie besuchen wollen.« Der Ton seiner Stimme verschärfte sich. »Sicherlich ist Ihnen klar, dass wir nicht von ferne daran denken dürfen.«
Zögernd musste Pitt ihm recht geben. Was ein solches Verhalten bewirken würde, stand ihm nur allzu deutlich vor Augen. In seinem Kopf überschlugen sich die Möglichkeiten, während er überlegte, wer hinter dem Plan stecken mochte. Vielleicht stimmte es ja, dass der Zweck des Attentats nicht in erster Linie darin bestand, den völlig unerheblichen Herzog Alois aus dem Weg zu räumen, sondern Großbritannien in Misskredit zu bringen.
»Ja, Sir, das verstehe ich«, sagte er. »Ich wüsste nur liebend gern, wer dahintersteckt, und werde auf keinen Fall ruhen, bis ich das weiß.«
Es war schon spät, und Pitt war müde. Doch er empfand das Bedürfnis, mit Narraway zu sprechen, um sich von ihm Rat zu holen, auch wenn er damit gewissermaßen eine Niederlage eingestand. Noch jetzt, während er durch die abendliche Kälte schritt, wobei der Atem in Form kleiner Dampfwölkchen aus seinem Mund kam, zögerte er. Narraway nicht zu fragen würde bedeuten, dass er seine Eitelkeit über das Leben der Männer und Frauen stellte, die umkommen würden, wenn Attentäter tatsächlich ein Eisenbahnunglück herbeiführten. Ganz zu schweigen von den entsetzlichen Folgen für den – nach den jüngsten Katastrophen ohnehin angeschlagenen – Staatsschutz, sofern ihm der Erfolg in diesem Fall versagt blieb.
Als er Narraways Haus erreicht hatte, war alle Unentschlossenheit von ihm abgefallen. Er nahm die Einladung zu einer Abendmahlzeit mit Tee an.
»Sind Sie im Zusammenhang mit Serafina Montserrats Tod weitergekommen?«, fragte Pitt, als sie vor dem Kamin saßen. Dabei beugte er sich vor, um sich die kältestarren Hände zu wärmen.
»Bisher nicht«, gab Narraway zur Antwort. »Aber Sie sind bestimmt nicht gekommen, um mich das zu fragen.«
Seufzend lehnte sich Pitt in seinem Sessel zurück. »Nein«, gab er zu. »Es geht um eine weit bedeutendere Angelegenheit, auch wenn ich nicht sicher bin, ob da womöglich eine Verbindung besteht. Mrs. Montserrat hatte Angst vor einer Gewalttat, denn sie kannte wichtige Staatsgeheimnisse und fürchtete, sie versehentlich Menschen gegenüber auszuplaudern, die sie zu Unrecht für vertrauenswürdig hielt, wenn ihr Gedächtnis sie wieder einmal im Stich ließ.«
»Reden Sie doch nicht um den heißen Brei herum«, erwiderte Narraway. »Bisher ist uns nicht bekannt, wer die Frau umgebracht hat oder was der Grund dafür war. Das Ganze kann ohne Weiteres eine häusliche Tragödie gewesen sein. Vielleicht hat die Großnichte es einfach nicht mehr ausgehalten, stumm in ihrer dienenden Rolle zu verharren und auf das Ende zu warten.«
Daraufhin teilte ihm Pitt in knappen Worten mit, was er über den möglicherweise bevorstehenden Anschlag auf den Zug, der den österreichischen Herzog von Dover nach London bringen sollte, sowie die Erkundigungen nach Fahrplänen, Signalen und der Möglichkeit, Weichen von Hand zu stellen, wusste, und überließ es Narraway, die naheliegenden Schlüsse zu ziehen. Er sah, wie sich dessen Miene dabei immer mehr verfinsterte. Schließlich lieferte er ihm noch das letzte Stück des Puzzles, das ihm Blantyre einige Stunden zuvor geliefert hatte.
»Staum also«, sagte Narraway nachdenklich. »In dem Fall ist viel Geld im Spiel. Der Bursche fühlt sich niemandem verpflichtet, und er ist teuer. Sollte er schon einmal bei einem Auftrag versagt haben, ist uns davon nichts bekannt.« Er dachte eine Weile schweigend nach und sah ins Feuer.
Pitt wartete.
»Hier geht es ganz offensichtlich nicht um etwas, was Staum will, sondern darum, wer ihn bezahlt«, nahm Narraway schließlich den Faden wieder auf. »Staum selbst kennt keine Vorlieben oder Abneigungen. Ein gezielt herbeigeführtes Eisenbahnunglück ist eine äußerst extreme Angelegenheit, bei der Dutzende von Menschen umkommen könnten. Für
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