Mord in Dorchester Terrace: Ein Thomas-Pitt-Roman (German Edition)
hatte.«
»Aber Serafina Montserrat hätte doch sicher als Letzte Einwände gegen eine Affäre erhoben oder sich gar dagegen ausgesprochen?«, hielt er dagegen.
»Möglich. Es ist aber denkbar, dass das ihrer Großnichte nicht bewusst war. Ich bin nicht sicher, ob sie das Vorleben ihrer Großtante in allen Einzelheiten gekannt hat. Möglicherweise ist sie auch der Ansicht, das meiste davon sei deren überhitzter Fantasie entsprungen. Es könnte sich lohnen, diesen Fragen auf den Grund zu gehen.«
»Ja«, stimmte er zu und beendete das Gespräch mit den Worten: »Ich werde mich darum kümmern«, als das Mädchen mit dem Teetablett hereinkam.
Vespasia goss seine Tasse voll und lächelte ihn dabei an. »Miss Tucker weiß bestimmt Bescheid«, bemerkte sie, während sie zugleich einen der hauchdünnen Kekse aus der Schale nahm. »Behandle sie mit Respekt, dann wirst du eine ganze Menge erfahren.«
Er überlegte einen Augenblick. »Falls dieser Geliebte es ernst meint, hätte er dann Mrs. Montserrat umbringen können, um dafür zu sorgen, dass genug Geld für das Erbe übrig bleibt? Zusammen mit dem Haus würde das dieser Großnichte doch bestimmt ein mehr als auskömmliches Dasein ermöglichen.«
»Möglich.« Vespasias Gesicht gab deutlich zu erkennen, für wie verachtenswert sie ein solches Verhalten hielt. »Genau deshalb musst du unbedingt feststellen, wer der Mann ist.« Ihr Blick wurde weicher und zugleich trauriger. »Unter Umständen hat sein Motiv gar nichts mit Geld oder Nerissa Freemarsh zu tun. Es ist denkbar, dass er sie lediglich benutzt hat, um Zugang zu Serafina mit ihrem … nachlassenden Gedächtnis zu bekommen.«
Während sie das sagte, war ihm klar, wie sehr diese Worte sie schmerzten. »Ich verstehe«, erwiderte er. »Auch diesem Punkt werde ich nachgehen.«
Tief in Gedanken versunken saß Narraway in der Droschke, die ihn zu Mrs. Montserrats Arzt brachte. Er hatte erkannt, um wie viel schwieriger die Detektivarbeit war, als er ursprünglich angenommen hatte, und er hatte ein schlechtes Gewissen, weil er Pitts Fähigkeiten von Anfang an für selbstverständlich gehalten hatte. Er merkte nicht einmal, dass sich der leuchtend blaue Himmel verdüsterte und Menschen, die zu Fuß unterwegs waren, ihre Schritte beschleunigten. Auch die ersten schweren Regentropfen entgingen ihm. Erst als ein Windstoß einem Mann auf dem Gehweg den Schirm entriss und auf die Straße entführte, sodass die Pferde scheuten und es beinahe zu einem Unfall gekommen wäre, fiel ihm der plötzliche Wetterumschwung auf.
Dr. Thurgood sah keine Möglichkeit, ihm weiterzuhelfen. Er hatte seiner ursprünglichen Erklärung nichts hinzuzufügen, derzufolge eine so große Überdosis Opiumtinktur den Tod seiner Patientin ausgelöst hatte, dass diese sie unmöglich selbst aus Versehen hätte einnehmen können. Nicht einmal das Dreifache der üblicherweise verabreichten Menge, betonte er, könne die in ihrem Körper festgestellte Konzentration des Giftes erklären, die mehr als ausreichend gewesen war, den Tod herbeizuführen.
Obwohl sich Narraway die Antwort denken konnte, fragte er den Arzt, ob sich das Mittel im Laufe der Zeit in einem Organ angereichert haben könnte. Es überraschte ihn nicht, dass Thurgood erklärte, davon könne keine Rede sein.
Narraway nahm erneut eine Droschke und ließ sich nach Dorchester Terrace fahren. Unterwegs ging er die ihm bekannten Fakten noch einmal durch und kam zu dem Ergebnis, dass nur wenige Menschen eine Möglichkeit gehabt hatten, der alten Frau eine solche Dosis zu verabreichen. Vielleicht kam Nerissa Freemarsh tatsächlich infrage. Immerhin hatte sie ein Motiv: Eigensucht oder Habgier.
Allerdings glaubte er nicht ernsthaft an diese Möglichkeit, es sei denn, ihr Liebhaber hätte sie mit plausiblen Argumenten dazu getrieben. Aber welche könnten das gewesen sein? Eine dringend zu behebende plötzlich aufgetretene große Geldverlegenheit? Der Wunsch zu heiraten, bevor es für Kinder zu spät war?
Doch warum dann jetzt und nicht schon früher? War es wirklich nichts als Zufall, dass die Tat in die Zeit unmittelbar vor dem Besuch des Herzogs Alois fiel? Er hielt das für immer weniger wahrscheinlich und konnte sich inzwischen gut vorstellen, dass das Ganze mit ihrer Vergangenheit zusammenhing, mit der Fülle des gefährlichen Wissens, das sie besaß und wegen ihres nachlassenden Gedächtnisses womöglich unabsichtlich Stück für Stück preisgab.
In Dorchester Terrace angekommen,
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