Mord in Dorchester Terrace: Ein Thomas-Pitt-Roman (German Edition)
sorgfältig behandeln musste, aber zugleich auch als etwas, was weder Augen noch Ohren hatte.
»Wer ist das, Miss Tucker?«
Sie zögerte.
»Miss Tucker, es ist möglich, dass der Betreffende mit Mrs. Montserrats Tod in Verbindung steht, ob mittelbar oder unmittelbar.«
Miss Tucker zuckte zusammen.
»Bitte.«
»Entweder Lord Tregarron oder Mr. Blantyre«, sagte sie kaum hörbar.
Narraway war wie benommen. Die Ungläubigkeit musste ihm anzusehen gewesen sein, denn in dem Blick, den ihm die Zofe jetzt zuwarf, lag eine Enttäuschung, die an Gekränktheit grenzte. Sie setzte erneut an, als ob sie etwas sagen wollte, unterließ es dann aber.
»Sie überraschen mich«, gab er zu. »Ich hatte bisher beide Herren für sehr glücklich verheiratet gehalten, und Miss Freemarsh ist … nicht …«
»Übermäßig attraktiv«, beendete Miss Tucker den Satz für ihn.
»Ja …«, gab er ihr recht.
Miss Tucker lächelte nachsichtig. »Ich habe erlebt, wie sich äußerst achtbare Herren in mittleren Jahren unrettbar in den Netzen der sonderbarsten Frauen verfangen haben«, gab sie zurück. »Mitunter waren das ausgesprochen derbe Weiber, völlig ungebildete Arbeiterinnen mit ungewaschenen Händen. Ich habe nicht die geringste Vorstellung davon, womit sie Männer hätten umgarnen können, aber so war es nun einmal. An Mrs. Montserrat liebten sie den Mut, die Leidenschaft und die Abenteuerlust. Außerdem konnte sie sie zum Lachen bringen.«
Das glaubte er gern. Einen kurzen vollkommenen Augenblick lang kam ihm der Gedanke an Charlotte Pitt, und er begriff, warum sie viel zu häufig in seinen Gedanken auftauchte. Auch sie war mutig und leidenschaftlich und brachte ihn zum Lachen, aber ebenso beeindruckte ihn ihre unerschütterliche Treue, die nie zulassen würde, dass sie Pitt hinterging oder auch nur den Wunsch danach verspüren würde.
Wie verhielt es sich mit Vespasia? Sonderbarerweise faszinierte ihn nicht ihre Schönheit, so berauschend schön sie auch gewesen war. Er konnte sich noch deutlich daran erinnern. Es war das Feuer in ihr, die Intelligenz und der scharfe Geist, und in jüngster Zeit vor allem eine Verletzlichkeit, die er früher nie wahrgenommen hätte.
Gab es an Nerissa Freemarsh etwas, was ihm vollständig entgangen war, während Blantyre oder Tregarron es erkannt hatte?
»Ich danke Ihnen, Miss Tucker. Sie waren mir eine außerordentliche Hilfe«, sagte er. »Ich verspreche Ihnen, dass ich tun werde, was ich kann, um die wahren Umstände von Mrs. Montserrats Tod an den Tag zu bringen und dafür zu sorgen, dass der Täter zur Rechenschaft gezogen wird.«
Er unterließ es zu sagen, »nach Recht und Gesetz«, weil er nicht sicher war, dass das in diesem Fall dasselbe sein würde.
Als Narraway schließlich mit Miss Freemarsh sprach, befand er sich schon seit mehr als drei Stunden im Hause. Er hatte in Mrs. Whitesides Wohnzimmer eine Mahlzeit aus kalter Wildpastete mit Gewürzgürkchen gegessen und zum Nachtisch einen Talgpudding mit heißer Sirupsauce – genau das, was auch die Dienstboten in ihrem Esszimmer bekommen hatten. Inzwischen war der Tisch abgeräumt.
Miss Freemarsh kam herein und schloss die Tür hinter sich. Sie war nach wie vor in Schwarz, trug jetzt aber eine Gagatbrosche, die das Oberteil ihres Kleides weniger trist erscheinen ließ. Ein weißer Kragen oder ein Tuch hätte die gleiche Wirkung erzielt, aber für so etwas war es möglicherweise noch zu früh.
Ihr Gesicht hatte keinerlei Farbe, und sie wirkte müde. Um ihre Augen lagen tiefe Schatten. Einen Augenblick lang empfand Narraway Mitleid mit ihr. Er versuchte sich vorzustellen, wie ihr Leben tagein, tagaus gewesen sein mochte, und das Bild, das er vor sich sah, war eintönig, ohne Glanzpunkte oder Gelächter, ohne anregende Gedanken und auch ohne jedes Ziel. War sie voller Verzweiflung darauf bedacht gewesen, diesem Gefängnis zu entfliehen? Hätte nicht jeder Mensch das Bestreben gehabt, insbesondere eine liebende Frau?
»Bitte nehmen Sie Platz, Miss Freemarsh. Ich bedaure, Sie noch einmal belästigen zu müssen, aber es lässt sich nicht vermeiden.«
Sie folgte der Aufforderung und setzte sich steif mit im Schoß gefalteten Händen hin.
»Ich nehme an, dass Sie das andernfalls auch nicht tun würden, Mylord«, sagte sie mit einem Seufzer. »Es fällt mir ausgesprochen schwer zu glauben, dass jemand vom Gesinde etwas mit dem Tod meiner Tante zu tun haben sollte, nicht einmal durch ein Versehen oder eine Nachlässigkeit. Und sonst
Weitere Kostenlose Bücher