Mord in Dorchester Terrace: Ein Thomas-Pitt-Roman (German Edition)
… sonst fällt mir wirklich niemand ein. Aber da Sie überzeugt zu sein scheinen, dass es sich weder um einen selbst verschuldeten Unfall noch um Selbstmord handelt, muss es wohl eine andere Erklärung geben. Es ist … niederdrückend.«
»Ich muss Sie erneut nach Besuchern fragen, Miss Freemarsh …«, setzte er an.
»Ich denke, dass ich Ihnen bereits alles gesagt habe«, fiel sie ihm ins Wort.
»In der Tat. Aber da Ihrer Großtante unstreitig eine Überdosis Opiumtinktur verabreicht wurde und diese sofort gewirkt hat, kann nur jemand die Tat begangen haben, der am Abend ins Haus gekommen ist.« Er sah, wie sich ihre bleichen und starren Hände, die sie nach wie vor im Schoß hielt, so fest ineinander verkrallten, dass die Knöchel weiß hervortraten. »Wer könnte das gewesen sein, Miss Freemarsh?«
Sie öffnete den Mund, holte Luft und schwieg. Er konnte an ihren Augen ablesen, wie sich ihre Gedanken jagten. Falls sie bestritt, dass jemand gekommen war, blieb nur noch die Möglichkeit, dass sich der Täter bereits im Hause befunden haben musste: entweder sie oder doch jemand vom Personal. Aus der Befragung der Dienstboten wusste er, dass sie, nachdem der Abwasch erledigt war, ihrerseits gegessen und sich zurückgezogen hatten. Sofern sich nicht mindestens zwei von ihnen miteinander abgesprochen hatten, war von allen genau bekannt, wo sie sich wann aufgehalten hatten.
Miss Freemarsh war allein gewesen. Er versuchte sich ihre langen einsamen Abende vorzustellen, an denen sie Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat und Jahre hindurch auf einen Liebhaber gewartet hatte, der nur selten kam. Falls er dort gewesen war, musste sie ihn eingelassen haben, möglicherweise zu einem verabredeten Zeitpunkt. Sicherlich lag es in beider Interesse, ihre Beziehung vor den Dienstboten geheim zu halten.
Er sah jetzt wartend zu ihr hin und zwang sich, an Mrs. Montserrat zu denken, die ebenfalls in ihrem Zimmer allein gewesen war, wobei ihr sogar die Erinnerungen an das eigene Leben entglitten waren.
»Mrs. Blantyre war da«, sagte Nerissa leise. »Tante Serafina konnte sie gut leiden und hat sich über ihre Besuche gefreut. Aber ich kann mich …« Sie ließ den Rest ungesagt.
»Und sie war mit Mrs. Montserrat allein?«
»Ja. Ich hatte eine häusliche Angelegenheit zu erledigen … Es ging um den Speiseplan für den nächsten Tag. Es … tut mir wirklich leid.«
Zwar konnte Narraway es kaum glauben, doch wenn sich Miss Tucker nicht irrte, war entweder Blantyre oder Tregarron Miss Freemarshs Liebhaber. Wusste möglicherweise auch Adriana Blantyre davon?
Doch wie konnte jemand die unansehnliche, humorlose Nerissa, die dem Leben keine Freude abzugewinnen vermochte, der schönen und eleganten Adriana vorziehen? Ob Blantyre von deren schwächlicher Gesundheit genug hatte? War die womöglich die Ursache dafür, dass ihm eheliche Freuden verwehrt blieben? Doch war das eine Entschuldigung? Vielleicht vertrat er die Ansicht, dass das ein Grund war. Aber warum um alles in der Welt eine reizlose, achtbare Frau wie Nerissa? Liebte sie ihn womöglich, und sehnte er sich nach Liebe? Oder war er gerade deshalb auf sie verfallen, weil niemand dergleichen vermuten würde. Was wäre sicherer als eine solche Beziehung?
Auf welche Weise mochte Adriana davon erfahren haben? Durch ein unachtsames Wort aus dem Mund Mrs. Montserrats, die nicht gemerkt hatte, was sie damit aussprach? Konnte sie tatsächlich so eifersüchtig sein, dass sie eine alte Frau im Schlaf ermorden würde? Doch wozu? Damit ihr Mann erst recht einen Vorwand hatte, weiterhin das Haus in Dorchester Terrace aufzusuchen? Das war widersinnig.
Aber Adriana war Kroatin, und Mrs. Montserrat hatte in Wien, Norditalien und auf dem Balkan gelebt und gewirkt, unter anderem in Kroatien. Er musste sich genauer mit ihrer Vergangenheit beschäftigen, bevor er irgendwelche Schlüsse zog.
»Vielen Dank, Miss Freemarsh«, sagte er. »Ich danke Ihnen für Ihre Offenheit. Ich nehme nicht an, dass Sie mir einen Grund dafür nennen könnten, warum Mrs. Blantyre den Wunsch gehabt haben sollte, Ihrer Großtante Böses zu wünschen?«
Sie senkte den Blick. »Ich weiß nur sehr wenig, genau genommen nur, was Tante Serafina gesagt hat, und das waren oft Ungereimtheiten. Ich bin nicht in der Lage zu entscheiden, was davon wirklich und was Ergebnis ihrer Vorstellungskraft war. Sie war sehr … verwirrt.«
»Was hat sie denn gesagt, Miss Freemarsh? Falls Sie sich an etwas erinnern können,
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