Mord in Dorchester Terrace: Ein Thomas-Pitt-Roman (German Edition)
hilft das möglicherweise, das Geschehene zu erklären, insbesondere, wenn sie es auch in Gegenwart anderer gesagt hat.«
Miss Freemarsh riss die Augen weit auf. »Mrs. Blantyre? Glauben Sie?«
»Wir wissen nicht, mit wem Ihre Großtante noch gesprochen haben könnte.« Er wusste nicht, worauf er damit hinauswollte, aber er wollte nicht daran denken, dass Adriana die Tat begangen haben könnte, ganz gleich, aus welchem Grund, solange er nicht alle anderen Möglichkeiten ausgeschlossen hatte und wusste, vor wem Mrs. Montserrat Angst gehabt hatte.
Miss Freemarsh schwieg so lange, dass Narraway anfing zu vermuten, sie werde nichts sagen. Als sie es schließlich doch tat, kamen ihre Worte zögernd, aber fest.
»Sie hat viele Namen genannt, vor allem aus der Zeit vor dreißig oder vierzig Jahren. Die meisten bezogen sich auf Österreicher, nehme ich an, oder Kroaten. Manche waren wohl auch Italiener. Ich kann mich leider nicht an alle erinnern. Das ist schwierig, wenn sie nicht aus der eigenen Sprache stammen. Sie hat Tregarron gesagt, aber das ergab für mich keinen Sinn, denn Lord Tregarron war zu der Zeit, von der sie zu sprechen schien, bestimmt noch ein Kind. Es war wie gesagt alles sehr verworren.«
»Ich verstehe. Wer noch?«
Wieder überlegte sie eine Weile, schien in Erinnerungen zu suchen, die für sie offenbar schmerzlich waren.
Narraway hatte ein schlechtes Gewissen, doch er musste allen Möglichkeiten nachgehen, für den Fall, dass die Sache mit dem geplanten Anschlag auf Herzog Alois zusammenhing, und sei es nur mittelbar. Zwar hatte Adriana Kroatien in jungen Jahren verlassen, doch lebten dort sicher noch Angehörige von ihr.
»Miss Freemarsh?«
Sie hob den Blick zu ihm. »Sie hat auch von Mrs. Blantyres Familie gesprochen. Mrs. Blantyres Mädchenname ist Dragovic. Ich weiß nicht, was sie gesagt hat. Es war so schwer, dem zu folgen. Ich weiß nicht einmal, ob etwas davon auf Tatsachen beruht. Aber Mrs. Blantyre schien … unglücklich zu sein. Allem Anschein nach war es eine sehr schwerwiegende Angelegenheit, und das hat in ihr vielleicht die Erinnerung an tragische Ereignisse wachgerufen. Ich kann darüber nicht viel sagen. Natürlich habe ich nicht mit ihr darüber gesprochen. Als ich Tante Serafina danach gefragt habe, schien sie es vergessen zu haben. Es tut mir leid, aber mehr kann ich Ihnen wirklich nicht sagen.«
»Ja. Vielen Dank.« Er stand auf und ließ sich von ihr zurück ins Vestibül und zur Haustür begleiten. Während sie so dastand, kam es ihm vor, als fühle sie sich von der Schönheit des Hauses erdrückt, das jetzt ihr gehörte.
Mit raschen Schritten strebte er von Dorchester Terrace dem Blandford Square entgegen, dessen kahle Bäume vor dem Himmel einen Schattenriss bildeten. Von dort war es nur noch eine Straße bis Lisson Grove und zu Pitts Büro, das bis vor Kurzem seines gewesen war.
Mit den Worten: »Sagen Sie mir, was Sie davon halten, Radley«, überreichte Lord Tregarron Jack einen Stapel Papiere. Sie befanden sich in Tregarrons Amtszimmer, wo sie sich schon seit einer Weile mit den schwierigen Einzelheiten einer britischen Wirtschaftsinitiative im Deutschen Reich beschäftigten. Die Aussichten, dieses schwierige Unternehmen erfolgreich zu Ende zu bringen, waren ebenso groß wie die, damit Schiffbruch zu erleiden.
»Ja, Sir.« Jack nahm den Stapel mit dem Gefühl tiefer Befriedigung entgegen. Solche Papiere durften die Amtsräume nicht verlassen, also wollte Tregarron offenbar, dass er sie umgehend las. Er suchte sein eigenes Büro auf, das weit kleiner und bescheidener eingerichtet war, setzte sich in den Sessel am Kamin und begann zu lesen.
Mit großem Interesse erfuhr er ständig mehr über Europa im Allgemeinen und das empfindliche Gleichgewicht zwischen dessen Ländern, insbesondere was die im Zerfall begriffene alte Donaumonarchie und die neue aufstrebende Macht des Deutschen Reiches mit seiner beispiellosen Tatkraft betraf. Zwar hatte dessen Kultur, die ebenso alt war wie das Land selbst, einige der bedeutendsten Denker der Welt und die meisten der herausragenden Komponisten hervorgebracht, deren Musik die Menschen bereicherte, doch als politisches Gebilde steckte es noch in den Kinderschuhen. Alle Stärken und Schwächen der Jugend prägten sich in seinem Verhalten aus.
Ähnliches ließ sich in mancherlei Hinsicht über Italien sagen, das im Norden an Österreich grenzte. Geeint war das Land lediglich im Hinblick auf Sprache und Kulturerbe, politisch
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