Mord in Dorchester Terrace: Ein Thomas-Pitt-Roman (German Edition)
behalten. Bis vor einem Jahr war ich Leiter des Staatsschutzes.« Es schmerzte ihn nach wie vor, das zu sagen.
Vielleicht hatte sie das in seinem Gesicht erkannt. »Ich verstehe«, sagte sie mit leichtem Nicken. »Sie sind zu jung für eine Pensionierung.« Sie stellte die Frage nicht, die in der Luft hing.
»Eins meiner eigenen Geheimnisse hat sich gegen mich gewendet und mich zu Fall gebracht«, sagte er.
»Ach je.« In ihren Augen lag Mitgefühl und ein kaum spürbarer Anflug von Humor.
»Wer war hier, Miss Tucker?«, wiederholte er.
»Lord Tregarron, ich glaube, zweimal«, gab sie zurück. »Er ist nicht lange geblieben, weil es beide Male Mrs. Montserrat nicht besonders gut ging. Ich habe nicht gehört, worüber sie sich unterhalten haben, aber es kam mir so vor, als sei es dabei nicht … nicht gerade friedlich zugegangen.«
Die Mitteilung überraschte ihn. Es war ihm nicht bewusst gewesen, dass Tregarron und Mrs. Montserrat einander gekannt hatten.
»Woher wissen Sie das, Miss Tucker? Hat Mrs. Montserrat Ihnen das gesagt? Oder ist Ihnen das auf andere Weise zu Ohren gekommen?«
»Sie kannte den ersten Lord Tregarron, aus Wien. Das liegt lange zurück.«
»Seinen Vater?«
»Ja.«
»Aber Ihnen sind die näheren Umstände bekannt?«
»Das nun gerade nicht, aber ich habe meine Vermutungen, die ich hier allerdings nicht ausbreiten möchte.«
»Hat er auch mit Miss Freemarsh gesprochen?«
»Ja, ziemlich lange, aber unten, im Empfangszimmer. Ich weiß nicht, worum es dabei ging. Es muss aber eine ziemlich lange Unterhaltung gewesen sein, wie mir das Dienstmädchen gesagt hat.«
»Ich verstehe. Sonst noch jemand?«
»Mr. und Mrs. Blantyre waren mehrfach hier.«
»Um Mrs. Montserrat zu besuchen?«
»Und Miss Freemarsh. Ich nehme an, dass sie mit ihr über Mrs. Montserrats Gesundheitszustand und über Möglichkeiten gesprochen haben, ihr das Leben angenehmer zu machen. Ich glaube, Mrs. Blantyre konnte sie sehr gut leiden. Jedenfalls war das mein Eindruck.«
»Und Mr. Blantyre?«
»Er ist seiner Frau sehr zugetan und macht sich große Sorgen um ihre Gesundheit. Sie scheint anfällig zu sein, zumindest ist das seine Ansicht.«
»Ihre aber nicht?«, fragte er rasch.
Sie lächelte. »Ich denke, dass ihre Gesundheit weit robuster ist, als er annimmt. Er sieht sie gern als leidend an. Manche Männer gefallen sich in der Rolle eines Beschützers der Schwachen. Sie wollen eine schöne Frau umhegen wie eine tropische Blume, die man vor jedem kühlen Luftzug bewahren muss.«
An so etwas hatte Narraway noch nie gedacht, doch während sie das sagte, trat ihm das Bild vor Augen.
»Sie vermuten also, Mr. Blantyre war hier, weil er dafür sorgen wollte, dass die Besuche bei Mrs. Montserrat seine Gattin nicht zu sehr mitnahmen?«
»Ich nehme an, dass es seine Absicht war, diesen Eindruck zu erwecken.«
Er begriff den Unterschied. »Aha. Und was ist mit Miss Freemarsh?«, fragte er. »Würde sie dasselbe sagen?«
»Bestimmt.« Der winzige Anflug von Belustigung wurde erneut um ihren Mund herum sichtbar.
»Miss Tucker, ich habe den Eindruck, dass Sie mir etwas verschweigen.«
»Es sind nur Beobachtungen, Mylord, keine Tatsachen«, sagte sie rasch. »Es will mir scheinen, dass Sie Frauen nicht besonders gut kennen.«
Genau das hatte auch Vespasia gesagt, und inzwischen war ihm bewusst, dass das stimmte.
»Ich fange an zu lernen«, sagte er mit Wehmut in der Stimme. »Jetzt muss ich Ihnen eine schwierige Frage stellen, Miss Tucker, und das keineswegs aus persönlicher Neugier, sondern weil ich die Antwort wissen muss. Hat Miss Freemarsh einen Verehrer?«
Miss Tuckers Gesicht blieb völlig teilnahmslos. »Sie meinen einen Liebhaber, Mylord?«
Narraway sah sie aufmerksam an, konnte aber nach wie vor nicht erkennen, welche Empfindungen hinter den Worten steckten.
»Vermutlich.«
»Ja. Da gibt es einen. Aber das weiß ich nur, weil ich ein Leben lang Zofe war. Ich sehe es einer Frau sofort an, wenn sie verliebt ist. Das erkennt man an der Art, wie sie geht, wie sie lächelt, aber auch an winzigen Unterschieden in ihrem Erscheinungsbild, die sie selbst dann vornimmt, wenn sie sich genötigt sieht, die Beziehung geheim zu halten.«
Er nickte bedächtig. Wieso wusste er so etwas nicht? Es ergab durchaus einen Sinn. Bestimmt war all das für Miss Tucker wie ein offenes Buch. Wer mit Dienstboten im Hause aufgewachsen war, sah sie als eine Art vertraute und nützliche Einrichtungsgegenstände an, die man
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