Mord in Dorchester Terrace: Ein Thomas-Pitt-Roman (German Edition)
ihn keine besondere Konzentration, die gesellschaftliche Form zu wahren.
Tregarron nahm nicht an der Gesellschaft teil, aber als einer der Anwesenden dessen Namen nannte, sah Jack, dass sogleich ein Ausdruck von Hochachtung auf Emilys Züge trat, und sie äußerte sich mit herzlichen Worten über Lady Tregarron. Erneut musste Jack an die Sache mit dem Vertrag denken. Auf welche Weise mochte diese spezielle Information den Leuten in Wien zur Kenntnis gelangt sein? Sofern der Nachrichtendienst der Österreicher dahintersteckte, konnte das nur bedeuten, dass er über Kontaktleute im britischen Außenministerium verfügte. Das wiederum hätte bei Tregarron weit größere Unruhe auslösen müssen, als er zu erkennen gegeben hatte.
Bedeutete das, dass man das Leck anderswo suchen musste? Da ihm nicht einfiel, wo das sein könnte, schob er die Sache einstweilen in den Hintergrund und wandte sich erneut seiner Tischnachbarin zu.
Erst lange nach Mitternacht ließen sie ihre Kutsche vorfahren. Emily unterdrückte unauffällig ein Gähnen. »Wirklich ein gelungener Abend«, sagte sie mit mattem Lächeln und lehnte den Kopf an seine Schulter.
Er legte den Arm um sie. »Das freut mich. Einige der Leute waren wirklich äußerst unterhaltsam.«
Sie wandte sich ihm zu, obwohl sie ihn in der dunklen Kutsche nicht sehen konnte, denn nur ab und zu fiel der Schein von Straßenlaternen herein, an denen sie vorbeikamen.
»Was macht dir Sorgen? Sag nur nicht, dass ich mich irre. Ich merke es, wann du jemandem deine ganze Aufmerksamkeit zuwendest und wann nicht.«
Er hatte ihr gegenüber nie die Unwahrheit gesagt, doch sein Amt verpflichtete ihn zur Verschwiegenheit.
»Es geht um Dokumente, mit denen ich heute zu tun hatte«, sagte er wahrheitsgemäß.
»Das schaffst du schon«, gab sie, ohne zu zögern, zurück. »Morgen wird dir alles klar sein. Ich war noch nie der Ansicht, dass man eine gute Lösung findet, wenn man müde ist.«
»Du hast recht«, stimmte er zu und lehnte sich zurück. Aber die Sache ging ihm nicht aus dem Kopf. Er war bereits fest entschlossen, am nächsten Tag Tante Vespasia um Rat zu fragen.
»Guten Morgen, Jack«, sagte Lady Vespasia, ohne ihre Verblüffung darüber zu verbergen, dass er auf der Schwelle ihres Empfangszimmers stand, kaum, dass sie ihr Frühstück beendet hatte. »Wo brennt es denn, dass du mich so früh aufsuchst?« Sie sah ihn aufmerksam an. Auch wenn er kein ausgesprochener Beau war, so hatte er doch immer gut ausgesehen und einen Charme ausgestrahlt, dem man leicht erlag.
Jetzt hingegen wirkte er unruhig, und es gelang ihm nicht, sein Unbehagen mit der von ihm gewohnten Leichtigkeit zu überspielen.
»Darf ich dich etwas ganz im Vertrauen fragen, Tante Vespasia?«
»Ach je.« Sie setzte sich und bedeutete ihm, es ihr gleichzutun. »Das klingt ja richtig bedrohlich. Natürlich. Worum geht es denn?«
So knapp wie möglich setzte er sie über das Abkommen mit Berlin ins Bild, wobei er ausließ, was der Geheimhaltung unterlag, und lediglich den Punkt darlegte, der Wien betraf. Dann erläuterte er ihr, warum ihm ein bestimmter Satz Sorge machte, und wartete angespannt auf ihre Reaktion.
Sie dachte gründlich nach. Er sah auf ihren Zügen, dass auch ihr die Sache nicht geheuer erschien, was ihn in seiner Besorgnis bestärkte.
Schließlich sagte sie: »Wenn du mit deiner Befürchtung recht hast, muss man annehmen, dass jemand im Außenministerium vertrauliche Informationen an Wien weiterleitet. Ich vermute, dass du das fragliche Dokument gründlich gelesen hast und dich keinesfalls irrst.«
»Ich habe die Sache Lord Tregarron vorgetragen und ihn gefragt, ob da ein Fehler vorliegt«, gab er zur Antwort. »Er hat mir für meine Sorgfalt gedankt und gesagt, er werde sich darum kümmern.«
»Das hat dich aber nicht befriedigt – sonst wärst du jetzt nicht hier, um mit mir darüber zu sprechen.«
Er machte einen zutiefst niedergeschlagenen Eindruck. »So ist es«, sagte er flüsternd.
»Hast du mit Emily darüber gesprochen?«
»Natürlich nicht«, sagte er mit geradezu erschrecktem Gesichtsausdruck.
»Oder mit Thomas?«
»Nein … ich …«
»Dann lass es auch dabei. Falls du das Thomas gegenüber erwähntest, würde ihm in seiner jetzigen Stellung keine andere Wahl bleiben, als zu handeln. Ich werde mich um die Sache kümmern.«
»Aber wie? Ich hatte von dir eigentlich nur einen Rat erwartet, wie ich mich verhalten soll. Vermutlich hatte ich im Stillen gehofft, du würdest
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