Mord in Dorchester Terrace: Ein Thomas-Pitt-Roman (German Edition)
Miss Tucker eine ganze Menge von dem bekannt, was ihre Herrin gewusst hatte. Seinen früheren Fehler, Dienstboten maßlos zu unterschätzen, würde er mit Sicherheit nicht wiederholen.
Er überlegte, ob er Miss Tucker eine kleine Aufmerksamkeit mitbringen sollte, um sie für ihren Zeitaufwand zu entschädigen, entschied sich aber dagegen. Es dürfte besser sein, damit zu warten. Jetzt würde er ihr sicher damit ein Kompliment machen, dass er ihr mit Achtung gegenübertrat.
Als er am Tag darauf um die Mitte des Vormittags im Haus in Dorchester Terrace eintraf, war Miss Freemarsh zu seiner Erleichterung nicht da.
»Ich möchte mit Miss Tucker sprechen«, teilte Narraway dem Lakaien an der Haustür mit. »Die Sache duldet keinen Aufschub. Wenn sie nicht so dringend wäre, würde ich zu einer solchen Tageszeit nicht stören.«
Der Mann ließ ihn ein, und eine Viertelstunde später saß Narraway erneut im Wohnzimmer der Haushälterin, Mrs. Whiteside, am Kamin. Die Zofe, Miss Tucker, hatte ihm gegenüber Platz genommen. Zwischen ihnen stand ein Tablett mit Tee, dünnen Toastscheiben und Butter.
»Es tut mir leid, Sie erneut bemühen zu müssen, Miss Tucker, aber ich muss unbedingt noch etwas mehr in Erfahrung bringen«, sagte er mit bedeutungsvoller Stimme.
Sie hatte den Tee eingegossen, doch er war noch so heiß, dass leichter Dampf von der Tasse aufstieg.
»Was kann ich für Sie tun, Lord Narraway? Ich habe Ihnen alles gesagt, was ich weiß.«
»Hier geht es um eine gänzlich andere Angelegenheit, zumindest nehme ich das an. Ich hätte gern Mrs. Montserrat danach gefragt, wenn es möglich gewesen wäre. Während ich heute Nacht wach gelegen und darüber nachgedacht habe, ist mir der Gedanke gekommen, dass auch Ihnen ein großer Teil dessen bekannt sein dürfte, was sie wusste.«
Zuerst schien sie von seinen Worten verblüfft zu sein, dann aber unübersehbar erfreut.
Er lächelte kaum wahrnehmbar, denn er wollte weder den Eindruck von Selbstzufriedenheit erwecken, noch sollte sie annehmen, er nehme die Sache leicht.
»Worum handelt es sich?«, fragte sie und nippte an der Tasse, um festzustellen, ob sich der Tee schon trinken ließ. Da er noch immer zu heiß war, nahm sie eine Scheibe Brot und bestrich sie mit Butter.
Er folgte ihrem Beispiel und sagte dann: »Die Sache ist äußerst vertraulich. Daher muss ich Sie bitten, mit niemandem, aber wirklich niemandem, darüber zu sprechen.«
»Das werde ich tun«, versprach sie.
»Ich frage Sie jetzt genau so, wie ich Mrs. Montserrat gefragt hätte. Was können Sie mir über Lord Tregarron sagen? Der gute Name unseres Landes und unser Ruf, dass wir kein unehrliches Spiel mit anderen Ländern treiben, insbesondere was das Deutsche Reich und Österreich angeht, verlangt, dass ich die Wahrheit in Erfahrung bringe.«
Eine sonderbare Situation: Da bat ein Herr – ein Lord – eine müde, stolze alte Frau, die ihr Leben lang ihrer Herrin treu gedient hatte, um Rat, forderte sie auf, sich zu erinnern, um ihrem Land zu helfen.
»Über den gegenwärtigen Lord Tregarron, Mylord, oder sei nen Vater?«, fragte sie.
Narraway sog langsam die Luft ein und stieß sie ebenso langsam wieder aus. »Vermutlich beide. Aber beginnen Sie bitte mit dem Vater. Sie haben ihn gekannt?«
Sie lächelte ein wenig, als erscheine ihr die Frage einfältig. »Mrs. Montserrat hat ihm sehr nahegestanden, jedenfalls eine Weile. Er war verheiratet, Sie verstehen. Lady Tregarron war eine reizende und hoch achtbare Dame, aber er fand sie bisweilen ein wenig …«, sie suchte nach dem treffenden Wort, »… fade.«
»Ach je.« Ohne es zu merken, hatte er das im gleichen Ton wie Lady Vespasia gesagt. »Ich verstehe.« In der Tat verstand er. Vor sein inneres Auge trat ein Bild endloser höflicher, sogar liebevoller Langeweile.
»War es Liebe?«
Sie verzog den Mund ein wenig. »Aber nein, eine Liebelei, ein Schritt vom Wege, um eine Blume aus dem Garten anderer zu pflücken. Die Stadt Wien übt einen gewissen Zauber aus. Man ist nicht bei sich zu Hause und vergisst, dass das Leben dort ebenso wirklich, ebenso gut – oder schlecht – ist wie anderswo.«
»Und sind die beiden im Groll auseinandergegangen?«
»Nicht die Spur.« Sie nahm einen kleinen Schluck Tee. »Ich vermute, dass er befürchtete, seine Gattin könne dahinterkommen, was ihm eine Menge Ärger eingetragen hätte. Er liebte sie und war auf sie angewiesen. Das hatte nicht nur mit seinen Empfindungen und damit zu tun, dass sie die
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