Mord in Dorchester Terrace: Ein Thomas-Pitt-Roman (German Edition)
einen Besuch bei Blantyre zu spät, doch wollte er ihn gleich am nächsten Vormittag nachholen. Bis zur Landung des Herzogs Alois in Dover waren es nur noch acht Tage, weshalb er es sich auf keinen Fall erlauben konnte, noch mehr Zeit ungenutzt verstreichen zu lassen.
Um Blantyre auf jeden Fall anzutreffen, suchte er ihn bewusst früh in dessen Haus auf. Immerhin bestand die Möglichkeit, dass er nicht gleich ins Amt ging – und wo hätte Pitt ihn dann finden können?
»Hat sich etwas Neues ergeben?«, fragte Blantyre überrascht, als man Pitt in sein Arbeitszimmer führte, wo er damit beschäftigt war, seine Korrespondenz zu erledigen. Briefbögen und Umschläge lagen sauber aufeinandergeschichtet auf einer Seite des Schreibtischs, und Blantyre hielt seinen Federhalter in der Hand, bereit, ihn in das elegante Tintenfass zu tauchen, das wie ein ruhender Löwe gestaltet war.
»Bitte entschuldigen Sie die Störung«, begann Pitt.
»Ich nehme an, dass es sich nicht vermeiden ließ.« Blantyre legte den Federhalter hin und schloss das Tintenfass. »Ist etwas vorgefallen? Gibt es Neuigkeiten über Herzog Alois? Bitte nehmen Sie doch Platz und berichten Sie.«
Er wies auf einen bequemen Lehnstuhl mit Lederbezug, ähnlich dem, auf dem er selbst saß.
Pitt folgte der Aufforderung.
»Mir bereitet der Tod von Serafina Montserrat Kopfzerbrechen«, gab er zurück. »Ich weiß nicht, ob er mit dem bevorstehenden Besuch des Herzogs in Verbindung steht, kann es mir aber auf keinen Fall leisten, diese Möglichkeit von vornherein auszuschließen.« Er teilte Blantyre das nur ungern mit, doch blieb ihm keine Wahl. »Ich fürchte, es steht außer Frage, dass es sich um Mord handelt. Die Beweislage lässt keine andere Schlussfolgerung zu.« Er sah die Überraschung und Bestürzung auf Blantyres Zügen und fürchtete, dass Narra way mit seinem Verdacht recht gehabt haben könnte. War das der Grund gewesen für Blantyres offenkundige Fürsorge seiner Frau gegenüber? Hielt er sie emotional für so labil, dass er ihr eine solche Tat zutraute? Pitt vermochte sich kaum vorzustellen, wie sehr dieses Bewusstsein den Mann geängstigt haben musste. Wie konnte man die Frau, die man liebte, vor den Dämonen in ihrem eigenen Inneren schützen?
Blantyre wartete und sah Pitt mit seinen dunklen Augen fragend an.
»Die in ihrem Körper aufgefundene Menge an Opiumtinktur war weit höher, als sich durch eine versehentlich eingenommene oder verabreichte zusätzliche Dosis erklären ließe«, fuhr Pitt fort, obwohl ihm bewusst war, dass das nichts zur Sache tat. »Ich muss die Möglichkeit erwägen, dass sie etwas gewusst und preisgegeben hat, was in Beziehung zum Hintergrund des Anschlags auf Herzog Alois steht. Wenn wir diese Zusammenhänge kennen, gibt uns das unter Umständen eine Möglichkeit, festzustellen, wer dahintersteckt.«
Blantyre nickte bedächtig. »Ich verstehe. Die arme Serafina. Was für ein trauriges Ende für eine so tapfere Frau, die ein so bewegtes Leben geführt hat.« Er hob die Schultern kaum wahrnehmbar. »Was kann ich Ihnen an Nützlichem sagen? Wenn ich auch nur die geringste Vorstellung hätte, wer hinter dem geplanten Anschlag steht, hätte ich es Ihnen bereits gesagt. Ich versuche nach wie vor herauszubekommen, was ich kann, aber in der Donaumonarchie agieren Dutzende der unterschiedlichsten Gruppen gegen die Regierung. Gewaltbereit sind sie alle, aber soweit ich habe ermitteln können, ist von keiner bekannt, dass sie in irgendeiner Beziehung zu Herzog Alois stünde. Ich weiß nach wie vor nicht, ob der Mann bedeutender ist, als es den Anschein hat, oder einfach als Bauernopfer in einer Angelegenheit ausersehen ist, von der wir nicht wissen, worum es sich handelt – jedenfalls nicht in Einzelheiten.«
»Aber warum zum Kuckuck hier bei uns in England?«, fragte Pitt.
»Wahrscheinlich, um auf der ganzen Welt Aufmerksamkeit zu erregen.« Blantyre verzog das Gesicht. »Wenn so etwas hier geschieht, haben die Österreicher keine Möglichkeit, es zu vertuschen oder als Unfall darzustellen.« In einer Anwandlung von makabrem Humor fügte er hinzu: »Oder womöglich gar als Selbstmord.«
»Wollen Sie damit andeuten, dass es sich in Mayerling um Mord gehandelt hat?«, fragte Pitt überrascht.
»Nein«, gab Blantyre, ohne zu zögern, zurück. »Ich denke, man hat alles Menschenmögliche unternommen, um die Sache vor der Öffentlichkeit geheim zu halten. Vielleicht war das ein Fehler. Rudolf war nie von besonders
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