Mord in Dorchester Terrace: Ein Thomas-Pitt-Roman (German Edition)
robustem Wesen und hatte stets zwischen himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt geschwankt. Allerdings dürfte, was er als Kind erlebt hat, genügen, um jeden in den Wahnsinn zu treiben. Schließlich ist seine Mutter, um es ganz vorsichtig auszudrücken, reichlich überspannt. Von klein auf hat er seine Eltern so gut wie nie zu sehen bekommen – dafür haben sich buchstäblich Dutzende von Lehrern mit ihm beschäftigt, und weit und breit gab es keine gleichaltrigen Freunde.
Die Kaiserin ist unaufhörlich durch die Weltgeschichte gereist: zur Fuchsjagd nach Irland, nach Korfu, um die Sonne zu genießen und Gedichte zu lesen, nach Paris wegen der kulturellen Genüsse und der landesüblichen Lebensfreude – und das alles vermengt mit einem gewissen Ausmaß an Skandalen.«
Ohne ihn zu unterbrechen, musterte Pitt sein Gegenüber aufmerksam. Unwillkürlich griff die innere Bewegung, die er auf Blantyres Zügen wahrnahm, auf ihn über. Blantyre sprach leise, ohne Pitt anzusehen, den Blick auf irgendetwas hinter ihm gerichtet.
»Im Habsburgerreich ist die Politik unendlich viel komplizierter als bei uns. Die Ungarn sorgen sich, dass der deutsche Kaiser das westlich von ihnen gelegene Österreich und der Zar die slawisch geprägten Teile der Donaumonarchie an sich bringen könnte, die er jetzt schon unterstützt. Das Osmanische Reich ist im Zerfall begriffen, und man darf sicher sein, dass sich Russland einen so großen Teil davon einverleiben wird, wie es nur kann. Von Serbien und Kroatien könnte eine schleichende Unterhöhlung der habsburgischen Doppelmonarchie ausgehen und sich schließlich bis ins Herz des Stammlandes Österreich fressen.«
Mit trübseligem Lächeln sah er Pitt jetzt an. »Und natürlich ist Wien eine Brutstätte von Ideen aller Art. Unter anderem huldigt man dort dem Sozialismus, der sich gegenwärtig in ganz Europa breitmacht und den Erzherzog Rudolf so sehr bewundert hat. Er war ein Träumer. Ein Idealist, der überzeugt war, die Zukunft nach seinen Vorstellungen gestalten zu können.«
Mit leisem Knistern sank die Glut im Kamin in sich zusammen, doch Blantyre rührte sich nicht, um nachzulegen.
»Er war mit unserem Kronprinzen Edward befreundet«, fuhr er fort. »Natürlich waren sie weitläufig miteinander verwandt, wie der größte Teil der europäischen Herrscherhäuser, aber vor allem befanden sie sich in einer vergleichbaren Position. Wie der Prinz von Wales schien auch er zu endlosem Warten darauf verdammt zu sein, den regierenden Monarchen abzulösen, und wie dieser ist er mit seiner Gemahlin nicht ausgekommen. Sie war ein langweiliges, kaltes Geschöpf, das an allem herummäkelte, aber ansonsten alles verkörperte, was die Gattin eines Habsburgerkaisers braucht.«
»Und dann hat er sich in Marie Vetsera verliebt«, sagte Pitt.
»Davon bin ich nicht überzeugt. Eher vermute ich, dass er einfach nicht mehr ein noch aus wusste«, gab Blantyre betrübt zurück. »Er hatte nichts mehr, worauf er hoffen konnte. Unter anderem litt er an Syphilis. Eine alles andere als angenehme Krankheit, die überdies unheilbar ist, wie Ihnen bekannt sein dürfte.«
Pitt versuchte sich die Situation des Mannes vorzustellen. Es gelang ihm nicht. Nichts in seiner Lebenserfahrung oder Vorstellungswelt ermöglichte es ihm, sich ein Bild von dem Gefühl der Trostlosigkeit in der Seele jenes Mannes zu machen. Für ihn musste es wohl häufig Augenblicke gegeben haben, in denen ihm der Tod einfach als langer Schlaf erschien, nach dem er sich in seiner unermesslichen Ermattung sehnte. Pitt kam erneut auf Serafina Montserrat zu sprechen, die das Leben so glühend geliebt hatte.
»Ich habe sehr viel mehr über Mrs. Montserrats Vergangenheit in Erfahrung gebracht«, sagte er ruhig. »Sie war anwesend, als man aus Lazar Dragovic die Namen seiner Mitverschwörer herausprügeln wollte und ihn anschließend umgebracht hat. Außerdem hat sie sich danach um dessen Tochter Adriana gekümmert. Das Kind war erst acht Jahre alt.« Selbst gegen das Licht sah Pitt, dass Blantyre erstarrte und die Farbe aus seinem Gesicht wich. Wenn es noch nötig gewesen wäre, die Identität Adrianas festzustellen, hätte das genügt. »Allem Anschein nach weiß man bis auf den heutigen Tag nicht, wer ihn den Österreichern ans Messer geliefert hat«, fügte er hinzu. »Es ist allerdings denkbar, dass Mrs. Montserrat es wusste.«
Blantyre sog die Luft ein, stieß den Atem wieder aus und schluckte. Wortlos sah er Pitt mit festem Blick
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