Mord in Dorchester Terrace: Ein Thomas-Pitt-Roman (German Edition)
die Fragen, die er ihm stellen würde.
Die Frau, die inzwischen besänftigt zu sein schien, brachte auf Ffitchs Anweisung hin Tee zusammen mit einer mächtigen Portion Kuchen und ließ die beiden dann allein.
»So«, sagte Ffitch befriedigt. »Das muss ja was furchtbar Wichtiges sein, wenn der neue Leiter des Staatsschutzes den langen Weg hierher findet. Mindestens Mord oder Landesverrat. Womit kann ich Ihnen behilflich sein?« Er rieb sich die für sein Alter erstaunlich kräftig wirkenden Hände, griff nach einer Schaufel und legte mehr Kohlen auf das Feuer im Kamin. Die Geste wirkte so, als richte er sich darauf ein, dass das Gespräch den ganzen Nachmittag dauern würde.
Bevor ihm Pitt die Dinge darlegte, sprach er erst einmal dem Kuchen zu, der ihm vorzüglich schmeckte. Dann nahm er einen Schluck von dem heißen Tee, der ihm nach der langen Fahrt in dem nicht sonderlich gut geheizten Zug guttat. So gestärkt, trug er Ffitch den Fall wahrheitsgemäß vor, jedenfalls, soweit er Mrs. Montserrat betraf.
»Wie traurig, dass ein so großartiger Mensch wie Serafina auf diese Weise endet«, sagte dieser, als Pitt mit seinem Bericht fertig war. Sein Gesicht, das ursprünglich so ausdruckslos schien, wirkte jetzt bekümmert und sah damit völlig anders aus als zuvor. »Aber womöglich hat ihr der Täter damit in gewisser Weise sogar eine Art Dienst erwiesen.«
»Kann sein«, stimmte Pitt zu. »Trotzdem muss ich wissen, um wen es sich handelt und was sein Motiv war.«
»Damit Gerechtigkeit geschieht?«, erkundigte sich Ffitch neugierig.
»Damit ich in Erfahrung bringe, wer an diesem Drama beteiligt war und worauf die Leute hinauswollen«, verbesserte ihn Pitt. »Es steht viel auf dem Spiel, und es gibt dabei eine Menge zu gewinnen und zu verlieren.«
»Immer noch? Nun ja.« Ffitch lächelte und entspannte sich. »Jedenfalls erleichtert es mich zu hören, dass es nicht geschieht, um Serafinas Andenken mit Schimpf und Schande zu bedecken. Ich merke immer wieder, dass nicht einmal die Vergangenheit vor so etwas sicher ist. Schon ein sonderbares Geschäft, dem wir uns da verschrieben haben. Weit häufiger als bei den meisten anderen Menschen tauchen da vor uns immer wieder alte Gespenster auf. Ich habe gelernt, mit ihnen in Frieden zu leben, und wünsche mir, dass es so bleibt.« Er runzelte die Brauen. »Aber Sie sprechen von einer gegenwärtigen Gefahr. Nehmen Sie doch noch etwas Tee und sagen mir dann, was ich tun kann.«
»Vielen Dank«, nahm Pitt an. Er sah sich im Zimmer um, das durch und durch englisch wirkte. Es war in keiner Weise zu erkennen, das Ffitch früher in vielen Ländern gelebt hatte. An den Wänden hingen Drucke von Hogarth-Karikaturen, und die Regale an der Wand ihm gegenüber waren voller solide in Leder gebundener Bücher. Soweit Pitt sehen konnte, waren es in erster Linie geschichtliche Werke sowie einige literarischen Inhalts. Das Licht brach sich auf dem in Goldbuchstaben gedruckten Titel von Gibbons Verfall und Untergang des Römischen Reiches wie auch auf dem Rücken von Miltons Das verlorene Paradies . Ihm blieb keine Zeit, sich die Bücher länger anzusehen.
Ffitch, der ihm Tee nachgegossen hatte, sagte nachdenklich: »Serafina Montserrat. Ich weiß eine ganze Menge über sie, bin ihr aber nur hin und wieder begegnet.« Mit einem Lächeln fuhr er fort: »Das erste Mal bei einem Ball in Berlin. Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern. Sie war ganz in Gold gekleidet. Obwohl sie so sanft aussah wie der Abendhimmel, wirkte sie wie eine Tigerin, die sich nur durch Wärme und gutes Futter für kurze Zeit zu einem friedfertigen Verhalten bewegen ließ.«
Dann wich das Lächeln der Erinnerung von seinen Zügen. »Das zweite Mal habe ich sie in einem Wald gesehen. Sie kam herbeigesprengt, sprang mühelos vom Pferd und ging anmutig nebenher, eine gertenschlanke Gestalt. Natürlich ritt sie im Herrensitz und trug Hosen, nebenbei gesagt, mit einer Pistole am Gürtel. Was müssen Sie wissen? Wenn Sie dahinterkommen wollen, wer sie umgebracht hat – dafür kommen hundert Leute aus hunderterlei Gründen infrage.«
»Was denn, auch jetzt noch, im Jahre 1896?«, hielt ihm Pitt in zweifelndem Ton entgegen.
Ffitch biss sich auf die Lippe. »Guter Einwand, Sir. Nein, jetzt nicht mehr. Aber einige der lange zurückliegenden Siege und Niederlagen sind auch heute noch nicht vergessen, jedenfalls bei denen, die daran beteiligt waren. Die ganze Sache kommt mir so vor, als ob Sie hinter etwas her wären,
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