Mord in Dorchester Terrace: Ein Thomas-Pitt-Roman (German Edition)
könnte?«
»Ich weiß nicht.« Pitt musste an Miss Tuckers Äußerung denken, dass auch Lord Tregarron das Haus in Dorchester Terrace aufgesucht hatte. Unbedingt musste er darüber mehr in Erfahrung bringen, so aberwitzig das Ganze schien. Was in aller Welt konnte Nerissa Freemarsh einem Mann in Tregarrons Stellung bieten? Seine Begierde stillen, sich für ihn auf eine Weise interessieren, wie es seine Frau vielleicht nicht mehr tat, ihm jeden seiner Wünsche erfüllen, wozu seine Frau ebenfalls möglicherweise nicht mehr bereit war? Eventuell bedeutete sie für ihn nichts weiter als eine Art Sicherheitsventil, die Möglichkeit, sich dem beständigen Druck zu entziehen, der Pflicht und der Notwendigkeit, die Erwartungen anderer zu erfüllen. Je länger Pitt darüber nachdachte, desto mehr Antworten fielen ihm ein.
War Mrs. Montserrat möglicherweise dahintergekommen und hatte ihr Vorhaltungen gemacht? Falls ja, dürften angesichts ihrer eigenen Vergangenheit wohl kaum moralische Erwägungen dahintergestanden haben. Hatte sie befürchtet, eine solche Beziehung könne dem Ruf der Großnichte schaden? Wenn die bekannt würde, wäre jede Aussicht Nerissas auf eine Ehe mit einem achtbaren Mann dahin, sofern eine solche überhaupt bestand.
Oder steckte noch ein anderer Grund dahinter, zum Beispiel der Wunsch, die Gefühle der jungen Frau zu schonen? Sicherlich hatte Mrs. Montserrat weit mehr als Nerissa über die Katastrophen im Leben der Menschen gewusst, die in diese Sache verwickelt waren.
Ganz davon abgesehen bestand die Möglichkeit, dass Nerissa die Vorhaltungen ihrer Großtante als moralisierend aufgefasst hatte, wenn nicht gar als Verbot. Falls sie Tregarron liebte, hätte das in ihren Augen ihre letzte Aussicht auf Liebe zunichtegemacht.
Er hoffte, dass die Wahrheit mehr oder weniger in dieser Richtung zu suchen war und Adriana Blantyre nichts mit Serafina Montserrats Tod zu tun hatte.
»Wie es aussieht, hat Lord Tregarron Mrs. Montserrat einen Besuch abgestattet.«
Blantyre erstarrte. »Tregarron? Sind Sie da sicher?«
»Ja.« Er konnte die Sache nicht länger hinausschieben. »Auch Ihre Gattin war oft bei ihr, aber das ist Ihnen sicher bekannt. Wie gesagt hat Mrs. Montserrat gemeinsame Sache mit Lazar Dragovic gemacht und sich um dessen achtjährige Tochter gekümmert, als man ihn gefasst und erschossen hat.« Er sah Blantyre fest in die Augen und erkannte die Veränderung darin, den scharfen Schmerz.
Blantyre, der begriff, dass Pitt das gesehen hatte, unternahm keinen Versuch, etwas zu bestreiten.
»Davon hätte Serafina ihr gegenüber nie gesprochen«, sagte er ruhig. »Die beiden kannten einander seit vielen Jahren und haben sich gelegentlich getroffen, ohne dass das je zur Sprache gekommen wäre. Ich weiß nicht, an wie viel davon sich meine Frau erinnert. Ich hoffe, nur an wenig. Vielleicht an Verwirrung und Leiden und natürlich an das Gefühl des Verlusts. Ihre Mutter war damals schon tot. Der Kontakt zu Serafina riss bald ab, denn die hatte keine Zeit für ein Kind, schon gar für nicht eines, das ständig kränkelte. Als ich Adriana kennenlernte, lebte sie bei ihren Großeltern. Da war sie neunzehn Jahre alt und die schönste junge Frau, die ich je gesehen habe.« Auf seine Züge trat von innen heraus ein Leuchten und der Hinweis auf einen Ausbruch von Gefühlen, den mit anzusehen Pitt peinlich war.
»Der Schatten der Tragödie hatte sie tief geprägt, und sie war zu Empfindungen fähig, die andere Frauen nicht hatten«, fuhr Blantyre fort. »Es wäre mir lieb, wenn Sie sie nicht auf diese Zeit ansprächen, soweit es für die Sicherheit des Landes nicht unumgänglich ist. Ich kann Ihnen versichern, dass sie es mir bestimmt gesagt hätte, wenn sie etwas über Herzog Alois oder, nebenbei gesagt, über Tregarron wüsste, und es versteht sich von selbst, dass ich Ihnen das weiterberichtet hätte.«
»Selbstverständlich werde ich nichts dergleichen tun«, erwiderte Pitt. »Es sei denn, dass mich die Umstände dazu zwingen. Allerdings kann ich mir ehrlich gesagt nicht recht vorstellen, wie es dazu kommen sollte. Aber möglicherweise muss ich Ihre Gattin auf ihren Besuch in Dorchester Terrace am Vorabend von Mrs. Montserrats Tod ansprechen, für den Fall, dass sie etwas gesehen oder gehört hat, was Licht auf die Sache werfen könnte.«
»Dann aber bitte in meiner Anwesenheit.« Auch wenn er das freundlich und ohne jeden drohenden Unterton gesagt hatte, war es mehr als eine Bitte. Der Nachdruck
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