Mord in Dorchester Terrace: Ein Thomas-Pitt-Roman (German Edition)
und Stelle erschossen, nachdem man vergeblich versucht hatte, ihre Namen aus ihm herauszuprügeln. Er ist gestorben, ohne ein Wort zu sagen. Sie haben ihn gezwungen, sich hinzuknien, und ihm dann die Pistole an den Kopf gesetzt.« Selbst nach so langer Zeit trat bei der Erinnerung daran ein tief betroffener Ausdruck auf Ffitchs Züge.
»Hätte Mrs. Montserrat gewusst, wer der Verräter war?«, fragte Pitt.
»Vermutlich. Aber ich habe keine Ahnung, warum sie nichts unternommen hat. Beispielsweise hätte sie den Halunken eigenhändig abknallen können. Ich an ihrer Stelle hätte es jedenfalls getan. Dragovic lag ihr am Herzen, vielleicht mehr als jeder andere ihrer Liebhaber. Falls sie gewusst hat, wer der Verräter war, und trotzdem nichts unternommen hat, muss sie einen verdammt guten Grund dafür gehabt haben.«
»Wie hätte der aussehen können?«, fragte Pitt.
Ffitch überlegte eine Weile. »Schwer zu sagen. Vielleicht stand das Leben anderer auf dem Spiel, wenn nicht gar das einer ganzen Reihe von Menschen. Oder wollte sie auf eine bessere Möglichkeit zur Rache warten? Aber nein, Serafina war nicht der Mensch, der gewartet hätte, zumal sich damals die Sachlage von einem Tag auf den anderen ändern konnte und sie dann keine Gelegenheit mehr gehabt hätte, tätig zu werden. Nein, sie hätte unbedingt sofort gehandelt, wenn sie eine Möglichkeit dazu gesehen hätte.« Er wandte sich ab und richtete den Blick auf die Flammen. »Ich habe da etwas munkeln hören, weiß aber nicht, ob es stimmt. Dragovics achtjährige Tochter soll dabei gewesen sein und hatte mit ansehen müssen, wie man ihren Vater misshandelt und hingerichtet hat. Es heißt, Serafina hätte vor der Wahl gestanden, sich auf die Jagd nach dem Verräter zu machen oder die Kleine zu retten.« Er wandte sein Gesicht wieder von den Flammen ab und sah zu Pitt hinüber. »Die Kleine hieß Adriana – Adriana Dragovic.«
Im Raum war es so still, dass Pitt das Knistern der Flammen im Kamin hörte.
»Wie sah sie aus?«, fragte er.
»Keine Ahnung, aber sie war von schwächlicher Konstitution. Ich weiß nicht mal, ob sie noch länger gelebt hat.«
Pitt war sich seiner Sache sicher und gab zurück: »Das hat sie.«
Ffitch sah ihn mit geweiteten Augen an. »Wollen Sie etwa sagen, dass sie mit Adriana Blantyre identisch ist?«
»Das vermute ich, werde es aber nachprüfen.«
Ffitch nickte und goss sich und seinem Besucher eine weitere Tasse Tee ein.
Pitt ging alle Unterlagen durch, die er über die dreißig Jahre zurückliegende Zeit finden konnte, soweit sie sich mit Lazar Dragovic, dessen versuchtem Aufstand, Verrat und Tod beschäftigten. Besonders viel fand er nicht, doch stellte sich dabei zweifelsfrei heraus, dass seine Tochter Adriana und die Gattin Evan Blantyres in der Tat ein und dieselbe Person waren.
Auch konnte es so gut wie keinen Zweifel daran geben, dass Serafina Montserrat die kleine Adriana vom Ort des Schreckens fortgebracht und sich um sie gekümmert hatte, bis es ihr möglich gewesen war, sie bei den Großeltern unterzubringen.
Doch einen Hinweis darauf, wer Dragovic an die Österreicher verraten hatte, gab es nicht. Nachdem sie ihn misshandelt und hingerichtet hatten, war der Aufstand in sich zusammengebrochen und nicht länger von Interesse gewesen.
Ob Adriana nach all diesen Jahren in Erfahrung gebracht hatte, wer der Verräter war? Oder hatte sie geglaubt, aus Mrs. Montserrats unzusammenhängenden Reden erfahren zu haben, wie sich die Dinge verhielten?
Pitt fragte sich, wie diese charmante und reizende Freundin Charlottes damit fertiggeworden sein mochte, dass sie in jungen Jahren hatte mit ansehen müssen, wie man ihren Vater umbrachte.
Ein wie großer Teil ihres Urvertrauens war dabei für alle Zeiten zerstört worden? Während seines ganzen Berufslebens war es Pitts Aufgabe gewesen, Geheimnisse aufzudecken, die so gut verborgen waren, dass niemand sie sich vorgestellt hätte. Er hatte quälenden Schmerz hinter den unterschiedlichsten Fassaden aufgespürt: Pflichterfüllung, Gehorsam, Treue und Opferbereitschaft. Er hatte gesehen, dass manche Menschen ihre Wut stumm mit sich herumtrugen, sodass es niemandem auffiel – bis die Dämme nachgegeben hatten und der Ausbruch alles mit sich gerissen hatte, was ihm im Wege stand.
Gefühle jeglicher Art konnten unerträglich werden und sich als etwas anderes tarnen. Das galt für Adriana Dragovic ebenso wie für jeden anderen Menschen.
Als er am Abend nach Hause kam, war es für
Weitere Kostenlose Bücher