Mord in Dorchester Terrace: Ein Thomas-Pitt-Roman (German Edition)
danach eingetreten war, an den Pulverrauch und den Geruch des Blutes? An das Blut ihres Vaters? Wie dann Serafina gekommen war, ihre Hand genommen, sie an sich gedrückt und fortgeführt hatte, vielleicht zu Pferd, im Sattel vor sich, wie sie wild davongestürmt war, um das Kind in Sicherheit zu bringen? Niemand und nichts auf der Welt würde sie vor den Albträumen bewahren können, die sie wohl ihr ganzes Leben lang heimsuchten.
Als Charlotte jetzt zu Adriana in ihrem herrlichen Kleid hinübersah, erkannte sie am Ausdruck der Augen in ihrem kalkweißen Gesicht, dass die Dämonen nach wie vor lebendig waren. Hatte Mrs. Montserrat unbeabsichtigt einige Worte zu viel gesagt, sodass Adriana jetzt wusste, dass sie Lazar Dragovic verraten hatte?
Oder hatte sie den Namen eines anderen genannt?
Es war ungehörig, Adriana jetzt so offen anzusehen, doch würde es für Charlotte keine weitere Gelegenheit geben, der Wahrheit näherzukommen. Ganz gleich, wie taktlos es sein mochte, sie konnte es sich auf keinen Fall leisten, die Gunst der Stunde nicht zu nutzen.
»Es tut mir in der Seele weh, dass sie nicht mehr lebt«, sagte sie zu Adriana. »Von Tante Vespasia habe ich gehört, sie habe zu viel von ihrem Schlafmittel eingenommen und sei dann einfach eingeschlafen.« Genügte das? Natürlich war das eine faustdicke Lüge, denn nicht Vespasia hatte ihr das gesagt, sondern Pitt. Aber das war jetzt unerheblich.
Adriana sah sie verwundert an. »Würde es jemanden töten, wenn er zum Beispiel eine doppelte Dosis eines solchen Mittels nähme?«
Charlotte zögerte. Was sollte sie sagen? Vor der Wahrheit ausweichen oder sie ihr mitteilen und sehen, wie sie darauf reagierte? Sie musste es unbedingt wissen. Vielleicht lag hier der Zentralpunkt von Pitts Fall, sodass unter Umständen das Leben anderer Menschen davon abhing.
»Nein«, sagte sie mit gleichmütig klingender Stimme. »Ich denke, dass dafür sehr viel mehr erforderlich wäre, auf jeden Fall das Mehrfache einer normalen Dosis.«
Es sah so aus, als bewegten sich alle anderen im Restaurant langsam wie im Schlaf und ertasteten sich ihren Weg. Adriana sah sie erneut an. Sie setzte zum Sprechen an, doch ihr Mund war so ausgedörrt, dass ihre Stimme krächzte. Sie nahm einen neuen Anlauf. »Das Mehrfache?«
Jetzt gab es für Charlotte weder ein Innehalten noch einen Rückzug. »Ganz offensichtlich.«
»In dem Fall …« Adriana sprach nicht weiter, doch das war auch nicht nötig. Beide wussten, was sie hatte sagen wollen.
»Das tut mir leid«, sagte Charlotte leise. »Vielleicht hätte ich Ihnen das nicht sagen sollen. Wäre eine Lüge oder zumindest eine Ausflucht besser gewesen?«
»Nein.« Adriana saß eine Weile reglos da. »Entschuldigung, aber ich kann jetzt nicht weiteressen. Ich glaube, ich muss nach Hause. Wissen Sie, wer ihr das Mittel gegeben hat? Etwa ihre Großnichte? Was meinen Sie? Serafina hat so sehr darunter gelitten, dass ihr Gedächtnis nachließ … wie auch ihre geistigen Fähigkeiten ganz allgemein …« Sie sprach nicht weiter.
»Das weiß ich nicht«, sagte Charlotte wahrheitsgemäß. »Manche würden darin sogar einen Akt des Mitleids sehen, doch vor dem Gesetz ist und bleibt es Mord.«
»Vielleicht hat sie es selbst eingenommen?«, fragte Adriana. Es klang verzweifelt.
Charlotte wusste, dass das ausgeschlossen war, da man in Kenntnis von Serafinas Ängsten alle Vorsichtsmaßnahmen gegen eine solche Möglichkeit ergriffen hatte. Doch dies war wohl nicht der richtige Augenblick, um das zu sagen.
»Möglicherweise«, erwiderte sie. »Sie hatte so entsetzliche Angst davor, aus Versehen Geheimnisse aus früheren Zeiten preiszugeben, die jemandem schaden konnten, der noch lebt. Allerdings habe ich keine Vorstellung davon, wer das sein könnte und ob es einen solchen Menschen überhaupt noch gibt. Wissen Sie etwas darüber?«
»Nein … Mir hat sie nichts über so jemanden gesagt.« Adriana sprach stockend, als suche sie in ihrem Gedächtnis nach etwas, was ihr Serafina mitgeteilt haben konnte.
»Sicher nicht?«, fasste Charlotte nach. »Das wäre doch eine Erklärung, wenn sie es selbst genommen hat.«
»Serafina kannte Lord Tregarron«, sagte Adriana zögernd. »Soweit ich sie verstanden habe, sogar ziemlich gut.«
Charlotte war verblüfft. Sie hatte in Adrianas Augen einen kaum wahrnehmbaren Anflug von Belustigung gesehen, der im nächsten Moment wieder verschwunden war. Tregarron war aber doch Jahrzehnte jünger gewesen als Serafina,
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