Mord in Dorchester Terrace: Ein Thomas-Pitt-Roman (German Edition)
damals, vor fünfunddreißig Jahren, also fast noch ein Junge. Das Ganze war lächerlich. Bestimmt irrte sich Adriana.
»Könnte es jemand anders gewesen sein, dessen Name ähn lich klingt?«, fragte sie. »Eventuell ein Österreicher oder Ungar?«
»Nein, es war Tregarron«, beharrte Adriana. »Er hat sie in ihrem Haus in Dorchester Terrace besucht.«
»Sie kann ihn aber doch nicht von früher gekannt haben.«
»Vielleicht nicht. Dann muss ich das wohl falsch verstanden haben.« Adriana sah auf Charlottes Teller und den nicht zu Ende gegessenen Nachtisch.
»O, ich bin satt«, sagte Charlotte rasch. »Wir wollen gehen. Es war köstlich. Ich möchte unbedingt später noch einmal etwas aus der kroatischen Küche kosten. Ich wusste gar nicht, dass sie so gut ist. Vielen Dank für alles, was Sie mir gezeigt haben, wie auch für Ihre angenehme Gesellschaft.«
Adriana hatte ihre Fassung fast vollständig wiedergewonnen und lächelte. »Hat nicht Ihr Lord Byron sinngemäß gesagt, das Glück sei ein Zwilling? Man lässt sich die Hälfte des Genusses entgehen, wenn man etwas allein unternimmt. Jetzt wollen wir zu meiner Kutsche zurückkehren.«
Um die Mitte des Nachmittags, etwas früher, als sie erwartet hatte, traf Charlotte zu Hause ein. Zwar hatte sie eine ganze Menge Informationen für Pitt, aber keine Ergebnisse. Ihre Überzeugung, dass Serafina bekannt gewesen war, wer Lazar Dragovic ans Messer geliefert hatte, ohne dass sie je zu jemandem darüber gesprochen hätte, war unerschütterlicher denn je. Hatte da das Geheimnis gelegen, das unabsichtlich preiszugeben sie gefürchtet hatte? Charlotte hielt diese Annahme für sinnvoll. Zumindest in Bezug auf Dragovics Tochter Adriana war dieses Wissen nach wie vor höchst brisant. Serafina hatte stets versucht, sie zu beschützen, sei es aus Zuneigung, aus Treue zu Lazar oder einfach aus Menschlichkeit. Sicherlich war ihr bewusst gewesen, auf welche Weise sich dieses Wissen auf Adriana ausgewirkt hätte.
Charlotte ging durch die Diele in die Küche. Daniel und Jemima waren noch nicht aus der Schule zurück, dafür war es zu früh. Aber auch von Minnie Maude war nichts zu sehen. Sie fand sie weder in der Küche noch der Spülküche, weder im Esszimmer noch im Wohnzimmer. War sie möglicherweise zum Einkaufen aus dem Haus gegangen? Das meiste, was der Haushalt brauchte, wurde geliefert, und darüber hinausgehende Einkäufe wurden gewöhnlich vormittags erledigt.
Charlotte ging nach oben, doch auch dort fand sie sie nicht. Jetzt begann sie sich Sorgen zu machen. Sie warf sogar einen Blick in den Garten hinter dem Haus, um zu sehen, ob das Mädchen vielleicht gestürzt war und sich dabei so schwer verletzt hatte, dass sie nicht aufstehen oder wenigstens zurück ins Haus humpeln oder kriechen konnte. Noch während sie dort nachsah, war ihr klar, dass diese Vorstellung widersinnig war. Sie würde es auf jeden Fall ins Haus geschafft haben, es sei denn, sie wäre bewusstlos.
Der einzige Ort, der noch infrage kam, war der Keller. Doch Charlotte war schon seit einer Viertelstunde zu Hause! Was um Himmels willen mochte Minnie Maude so lange da unten zu tun haben? Wenn sie etwas von dort holen musste, würde das nie und nimmer so lange dauern, zumal es dort unten eiskalt war.
Sie öffnete die Tür. Von der obersten Stufe aus sah sie gedämpften Lichtschein. War Minnie Maude womöglich dort ausgeglitten und gestürzt? Sie eilte die steile Treppe hinab, wobei sie sich am Geländer festhielt. In eine Wolldecke gehüllt saß das Mädchen auf einem Kissen in der Ecke und hielt einen entsetzlich schmutzigen kleinen Hund in den Armen, der ein rotes Band um den Hals trug. Im nächsten Moment sah sie mit Furcht in den Augen zu ihr auf.
Charlotte holte tief Luft: »Bringen Sie den Hund doch um Gottes willen nach oben in die Küche«, sagte sie, wobei sie sich bemühte, die in ihr aufgestiegene Rührung zu beherrschen. Erleichterung, Mitleid, Verständnis für die Einsamkeit des Mädchens und all die widerstreitenden Empfindungen Adriana und Serafina gegenüber drängten sich in ihrem Kopf. »Und waschen Sie ihn«, fuhr sie fort. »Er starrt ja vor Schmutz – kein Wunder, wenn er im Kohlenkeller gelebt hat.«
Minnie Maude stand langsam auf, das Tier nach wie vor an sich gedrückt.
»Außerdem sollten Sie ihm etwas zu essen geben«, fügte Charlotte hinzu. »Etwas Warmes. Er scheint ja noch sehr jung zu sein.«
»Wollen Sie ihn auf die Straße setzen?« Minnie Maudes Gesicht war
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