Mord in Dorchester Terrace: Ein Thomas-Pitt-Roman (German Edition)
und hängte den Schürhaken zurück. »Er vergöttert seine Mutter, während er seinem Vater ziemlich ablehnend gegenübergestanden hat.«
»War der nicht Diplomat in Wien?«
»Ja. Sie könnten versuchen festzustellen, ob er etwas über Dragovic oder Serafina gewusst hat.«
»Ist das jetzt noch wichtig? Wie könnte das in Beziehung zu Herzog Alois stehen?«
»Das ahne ich nicht. Es wäre ein möglicher Ansatzpunkt. Dann gibt es noch ein oder zwei andere, die ich …« Er suchte nach dem richtigen Wort und fuhr fort: »… dazu überreden könnte, mit Informationen nicht so zurückhaltend zu sein. Aber eine solche Schuld kann man nur einmal einfordern.« Er hob den Blick zu Pitt. Sein Gesicht war angespannt und wirkte im flackernden Schein des Feuers unsicher. »Ich werde es also nur tun, wenn es unerlässlich ist. Ist es das?«
Darauf konnte ihm Pitt keine Antwort geben. Lag die gesamte Tragödie um Mrs. Montserrat, Lazar Dragovic und Mrs. Blantyre in der Vergangenheit und hatte nichts mit Herzog Alois zu tun? War dessen Besuch im Lande reiner Zufall? Es kam ihm immer unwahrscheinlicher vor, dass es sich bei dem geplanten Anschlag um das Vorhaben chaotischer Anarchisten handeln sollte. An der ganzen Sache gab es nicht das geringste impulsive Element. Immerhin waren die ersten Gerüchte über den Anschlag schon vor Wochen aufgetaucht.
Zwar hätte er gern jemanden um Rat gefragt – vielleicht Vespasia –, doch war ihm klar, dass die Entscheidung ausschließlich bei ihm lag. Er war Leiter des Staatsschutzes. Narraway an seiner Stelle hätte sich zwar angehört, was andere zu sagen hatten, sich aber von niemandem einen Rat geben lassen.
»Ich möchte wissen, ob der Verrat an Dragovic das einzige Geheimnis war, das Serafina auszuplaudern fürchtete«, sagte er. »Und außerdem, wer Nerissa Freemarshs Geliebter ist, sofern es überhaupt einen gibt.«
»Ihr Geliebter?« Narraways Kopf fuhr mit einem Ruck hoch.
»Ja, stellen Sie das fest. Sehen Sie zu, dass Sie herausbekommen, ob das Tregarron ist, und wenn nicht, aus welchem Grund er sich sonst in Dorchester Terrace aufgehalten hat.«
Um sich an eine der von Narraway schließlich genannten Quellen zu wenden, bestieg Pitt den Zug der Bahnlinie Great Eastern nach Hackney Wick und ging im gelegentlich durchbrechenden Schein der Sonne zur gut einen Kilometer entfernt liegenden Plover Road. Von dort aus fiel der Blick auf Hackney Marsh, das in einer von schmalen, sich windenden Gewässern durchzogenen Landschaft lag.
Dort fand er den Mann, den ihm Narraway genannt hatte. Es handelte sich um einen Italiener, der gemeinsam mit Dragovic auf der Seite der kroatischen Nationalisten gekämpft hatte. Er war weit über achtzig, nahezu kahl, doch trotz seiner geschwächten Gesundheit nach wie vor von wachem Geist. Als sich Pitt identifiziert und dem Mann deutlich gemacht hatte, dass er Victor Narraway kannte, war dieser bereit, ihm über seine Erinnerungen an jene Jahre zu berichten.
Sie saßen in einem winzigen Zimmer, in dem ihre Knie fast aneinanderstießen. Aus dem Fenster fiel der Blick auf das Marschland, über das Vogelschwärme hinwegzogen. Sonnenschein und Schatten wechselten sich ab, und der umspringende Wind ordnete die Gräser zu immer neuen Mustern an.
»Und ob ich mich an Serafina Montserrat erinnere«, sagte der Alte mit einem Lächeln, das seine nach wie vor prächtigen Zähne zeigte. »Welcher Mann würde sie vergessen?«
»Und was ist mit Lazar Dragovic?«, fuhr Pitt fort.
Ein Ausdruck von Trauer legte sich auf das Gesicht des Alten. »Umgebracht«, sagte er knapp. »Die Österreicher haben ihn erschossen.«
»Hingerichtet«, bemerkte Pitt.
»Ermordet«, verbesserte ihn der Mann.
»Hatte er nicht seinerseits geplant, jemanden zu töten?«
Das Gesicht des Mannes verzog sich verächtlich. »Einen Schlächter des Volkes, den man als Herrscher eingesetzt hatte. Noch dazu ein Ausländer, der kaum der Landessprache mächtig war. Er hatte nicht den geringsten Rechtsanspruch auf diese Herrschaft. Er war brutal. Hätte man ihn umgebracht, wäre das eine Hinrichtung gewesen.«
»Hat jemand aus den eigenen Reihen Dragovic verraten?«, fuhr Pitt fort.
»Ja.« Die Augen des Alten schienen bei der Erinnerung förmlich zu glühen. »Selbstverständlich. Sonst wäre er denen nie in die Finger gefallen.«
»Und wissen Sie, wer das war?«
»Was für eine Rolle spielt das jetzt noch?« In seiner Stimme lagen Mattigkeit und Niedergeschlagenheit. Er sah hinaus auf
Weitere Kostenlose Bücher