Mord in Dorchester Terrace: Ein Thomas-Pitt-Roman (German Edition)
hatten sich aufgeregt unterhalten und ein wenig zu laut über derbe Witze gelacht. In der ganzen Atmosphäre hatte das Bewusstsein von Gefahr und Untergang gelegen.
In Triest hatten sie nebeneinander am Ufer der Adria gestanden, die kaiserlich-königlichen Prunkbauten im Rücken, während am sich herrlich wölbenden Himmel über ihnen Wolken vorübergezogen waren, aufgefächert wie Pferdeschweife. Serafina hatte das gesamte Habsburgerreich mit solcher Heftigkeit verflucht, dass sich dabei ihr Gesicht verzerrte und ihre Stimme schrill klang.
Als der Tee gebracht wurde, kehrte Vespasia mit einem Ruck in die Gegenwart zurück. Sie hatte die Tasse fast geleert, bis eine schlanke, dunkelhaarige Frau um die Mitte dreißig hereinkam und die Tür sacht hinter sich zuzog. Ihre Brauen und Wimpern waren so blass, dass man sie kaum wahrnahm. Mit leiser Stimme sagte sie: »Mein Name ist Nerissa Freemarsh. Es ist außerordentlich aufmerksam von Ihnen zu kommen, Lady Vespasia. Meine Großtante freut sich sehr über Ihren Besuch. Sobald Sie Ihren Tee getrunken haben, werde ich Sie zu ihr bringen. Unglücklicherweise werden Sie merken, dass Tante Serafina sehr viel schwächer ist, als Sie sie in Erinnerung haben dürften, und auch ein wenig zerstreuter.« Sie lächelte entschuldigend. »Soweit ich gehört habe, ist es ziemlich lange her, dass Sie einander zuletzt begegnet sind. Bitte haben Sie Geduld mit ihr. Sie wirkt mitunter recht verwirrt. Es tut mir wirklich leid.«
»Machen Sie sich darüber keine Gedanken.« Vespasia erhob sich, voll Schuldbewusstsein, dass sie die alte Freundin so lange nicht aufgesucht hatte. »Ehrlich gesagt vergesse auch ich gelegentlich dies und jenes.«
»Aber hier geht es um …«, setzte die junge Frau an, hielt inne und lächelte über ihre anfängliche Fehleinschätzung. »Natürlich. Sie haben offenbar verstanden.«
Sie wandte sich um und führte die Besucherin über das Parkett des Vestibüls die Treppe empor, wobei sie mit einer Hand ihren schlichten dunklen Rock anhob, um nicht auf dessen Saum zu treten.
Oben angekommen klopfte sie an und trat in das Zimmer der Kranken. Vespasia folgte ihr. Selbst an diesem dunklen Wintertag war es dort hell. Ein kräftiges Feuer brannte im Kamin. Die Wände waren in einem hellen Terrakotta-Ton gestrichen, und vor den Fenstern hingen geblümte Vorhänge, als habe Serafina unabhängig von den ehernen Gesetzen der Jahreszeiten den Sommer heraufbeschwören wollen.
Als Vespasia zum Bett sah, merkte sie sofort, dass es ihr nicht gelang, das Entsetzen zu verbergen, das sie bei dem Anblick erfasste, der sich ihr bot. Von Kissen im Rücken gestützt saß Serafina, deren schlohweißes Haar ein wenig nachlässig frisiert war, beinahe aufrecht. Sie trug keinerlei Make-up; allerdings wirkte ihr Gesicht wegen der dunklen Farbe ihrer Augen und Brauen, die ziemlich dünn geworden waren, nicht ganz so fahl. Man hätte sie nie in dem Sinne als schön bezeichnen können, wie es Vespasia auch jetzt noch war, doch hatte sie charaktervolle Züge und war dank ihres Mutes wie auch ihrer Klugheit eine außergewöhnliche Frau gewesen, neben der andere beinahe leblos gewirkt hatten. Jetzt aber, da all die brennende Energie und der einstige Schwung dahin waren, kostete es Mühe, sie in der zurückgebliebenen leeren Hülle zu erkennen.
Langsam wandte Serafina den Kopf und sah die Eintretenden an, als seien sie Störenfriede.
Vespasia spürte, wie sich ihr die Kehle zuschnürte, sodass sie kaum schlucken konnte.
»Lady Vespasia ist gekommen, um dich zu besuchen«, sagte die Großnichte mit erzwungener Munterkeit. »Sie hat dir belgische Pralinen mitgebracht.« Sie hob die Schachtel mit der bunten Schleife empor.
Das Lächeln, das zögernd auf die Züge der Kranken trat, war erkennbar von Höflichkeit diktiert, denn ihre Augen blieben ausdruckslos.
»Wie liebenswürdig«, sagte sie mit tonloser Stimme.
Vespasia trat vor und bemühte sich, das Lächeln zu erwidern, doch war ihr klar, dass niemand es für aufrichtig gehalten hätte. Sie sah sich einer Frau gegenüber, die höchstens zehn Jahre älter war als sie, deren Geist einst ebenso scharf wie ihrer und deren rasche Auffassungsgabe der ihren ebenbürtig gewesen war. Wer sie jetzt sah, konnte glauben, ihre Seele habe sie mitsamt ihrer inneren Kraft bereits verlassen.
»Ich hoffe, du magst sie«, sagte Vespasia. Während sie die Worte aussprach, hörte sie, wie hohl sie klangen. Einen Augenblick lang wünschte sie, sie wäre
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