Mord in Dorchester Terrace: Ein Thomas-Pitt-Roman (German Edition)
Vespasia sogleich in die Gegenwart des warmen, hellen Zimmers mit seinen geblümten Vorhängen und der verängstigten alten Frau im Bett neben ihr zurück.
»Wenn das so ist, dann solltest du besser deine Großnichte bitten, dafür zu sorgen, dass dich bestimmte Menschen nicht besuchen«, sagte sie. Es war ihr ernst damit. »Besonders viele davon kann es ja ohnehin nicht mehr geben. Gib ihr eine Liste, und sag ihr, dass du diese Leute nicht sehen möchtest. Du hast doch bestimmt eine Zofe, die dir hilft?«
»Ja, ich habe nach wie vor Miss Tucker«, gab Serafina mit Wärme zurück. »Gott segne sie! Aber was für einen Grund soll ich nennen?« Sie sah Vespasia Hilfe suchend an.
»Gar keinen«, erwiderte diese. »Es geht Miss Freemarsh nichts an, wen du empfangen willst und wen nicht. Sag ihr das, falls sie in dich dringen sollte. Lass dir irgendetwas einfallen.«
»Ich werde vergessen, was ich gesagt habe.«
»Dann frag sie. Sag: ›Was hab ich dir gesagt?‹ Wenn sie deine Worte wiederholt, hast du deine Antwort. Wenn sie sagt, dass sie sich nicht erinnern kann, kannst du ihr die Anweisung noch einmal geben.«
Serafina lehnte sich lächelnd in die Kissen zurück, ihr Blick war in die Ferne gerichtet. »Das ist schon eher die Vespasia, an die ich mich erinnern kann. Es waren herrliche Tage, nicht wahr?«
»Ja«, gab Vespasia aufrichtig und mit fester Stimme zurück. »Ja, unbedingt. Lebensvoller, als es den meisten Menschen vergönnt ist.«
»Aber auch gefährlich«, fügte Serafina hinzu.
»Das stimmt. Und wir haben sie überstanden. Du bist hier, und auch ich bin hier.« Sie lächelte der alten Frau zu, die reglos in ihrem Bett lag. »Wir haben unser Leben genossen und können die Erinnerung daran miteinander teilen.«
Langsam umklammerte Serafinas Hand das Laken, und ein Ausdruck von Besorgnis trat auf ihre Züge. »Siehst du, davor habe ich Angst«, flüsterte sie. »Nimm an, ich denke, du bist hier, und in Wirklichkeit ist es jemand anders. Wenn mich nun meine Erinnerung in die Zeit zurückführt, die wir miteinander in Wien, Budapest oder Italien verbracht haben, und ich etwas Gefährliches sage, etwas, wodurch Geheimnisse an den Tag kommen, die andere verstehen?«
Ihr Stirnrunzeln wurde noch ausgeprägter, und sie wirkte zutiefst beunruhigt. »Ich weiß entsetzliche Dinge, Vespasia, die den Untergang einiger der bedeutendsten Familien hätten herbeiführen können, wenn sie bekannt geworden wären. Nicht einmal hier in meinen eigenen vier Wänden wage ich sie auszusprechen. Weißt du …« Sie biss sich auf die Lippe. »In diesem Augenblick weiß ich, wer du bist, aber in einer halben Stunde habe ich das womöglich vergessen. Vielleicht spreche ich mit einem gänzlich anderen Menschen, der die Dinge nicht so versteht wie du, und ich wähne mich in der Vergangenheit. Möglicherweise …« Sie schluckte. »Möglicherweise denke ich, dass ich mich wieder in einer der früheren Situationen befinde, in einem der früheren Kämpfe, bei dem die Parole ›alles oder nichts‹ hieß – und ich vertraue dir, also diesem Menschen, ein gefährliches Geheimnis an … Verstehst du?«
Äußerst behutsam legte Vespasia erneut ihre Hand auf die Serafinas. »Aber meine Liebe, jetzt bist du hier in London. Es ist Ende Februar 1896, und du weißt genau, wer ich bin. Diese alten Geheimnisse liegen in der Vergangenheit. Italien ist geeint, wenn man von dem kleinen Teil im Osten absieht, der nach wie vor unter österreichischer Herrschaft steht. Ungarns Bedeutung in der Donaumonarchie hat abgenommen; sie vermindert sich von Jahr zu Jahr, und nach wie vor untersteht der gesamte Balkan der Herrschaft Wiens. Die meisten Menschen, die wir damals gekannt haben, leben nicht mehr. Die Schlachten kämpfen inzwischen andere. Wir wissen nicht einmal mehr, wer in sie verwickelt ist.«
»Du nicht«, flüsterte Serafina, »aber ich weiß wichtige Geheimnisse – weiß von Liebe und Hass aus der Vergangenheit, die nach wie vor von Bedeutung sind. So lange ist das alles in Wirklichkeit nicht her. Anderes mag für die Politik gelten, aber in der Erinnerung derer, die wir verraten haben, ist all das noch lebendig.«
Vespasia bemühte sich, etwas zu sagen, was die verängstigte Frau trösten konnte. Ihr war klar, dass es etwas Sinnvolles sein musste, weil sich Serafina sonst noch weniger verstanden und schließlich gänzlich verlassen fühlen würde.
»Vielleicht kannst du Miss Freemarsh bitten, dafür zu sorgen, dass du nicht mit
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