Mord in Dorchester Terrace: Ein Thomas-Pitt-Roman (German Edition)
müssen sich auch nicht an so vieles erinnern. Manche an so gut wie gar nichts.« Ein flüchtiges Lächeln trat auf ihre Züge. »Du und ich haben Unglaubliches erlebt. Wir waren nicht nur dabei, als Metzger, Bäcker und Hausfrauen auf die Barrikaden gestiegen sind, sondern haben auch ein Alpenglühen gesehen, das den Schnee wie Glut erscheinen ließ. Wir haben mit Kaisern getanzt, sind von Fürsten geküsst worden, und zumindest mich hat ein Kardinal einmal geradezu unflätig beschimpft …«
Sie sah, dass Serafina lächelte und kaum wahrnehmbar zustimmend nickte.
»Wir haben für das gekämpft, woran wir glaubten«, fuhr Vespasia fort. »Beide haben wir mehr gewonnen und verloren, als sich die heutige Jugend vorstellen kann. Aber ich denke, dass die Reihe eines Tages auch an sie kommt.«
Diesmal war Serafinas Blick einen Moment lang klar. »Ja, das haben wir, nicht wahr? Und genau deshalb habe ich Angst.«
»Was macht dir Angst, meine Liebe?«
»Ich weiß nicht mehr, wer wirklich ist und wer nur in meiner Erinnerung lebt«, gab Serafina zurück. »Mitunter kommt mir die Vergangenheit so lebendig vor, dass ich die unbedeutenden Ereignisse der Gegenwart mit den großen Aufgaben der Vergangenheit durcheinanderbringe – und mein Gegenüber mit den Menschen, die wir gekannt haben.«
»Ist das denn von Bedeutung?«, fragte Vespasia. »Möglicherweise ist die Vergangenheit ja interessanter als die Gegenwart.«
Wieder erreichte Serafinas Lächeln auch ihre Augen. »Unendlich interessanter – auf jeden Fall für mich.« Dann kehrte die Angst mit solcher Gewalt zurück, dass sie sie zu verschlingen schien. Ihre Stimme zitterte. »Ich habe so große Angst, Menschen mit anderen zu verwechseln, die ich früher gekannt und denen ich vertraut habe, und dass mir dann Dinge entschlüpfen, die ich nicht sagen sollte! Ich weiß entsetzliche und gefährliche Geheimnisse, bei denen es um Mord und Verrat geht. Verstehst du?«
Wenn sie ehrlich war, verstand Vespasia nicht, was Serafina meinte. Serafina war ihr Leben lang eine Abenteurerin gewesen und hatte nie etwas auf sich beruhen lassen. Sie hatte zweimal geheiratet, beide Male nicht sonderlich glücklich, und sie war kinderlos geblieben. Da sie besser hatte reiten und schießen können als so mancher Mann, war es für Männer sicher nicht einfach gewesen, mit ihr auszukommen. Sie hatte nie gelernt, ihre politischen Ansichten für sich zu behalten oder sich bei der Ausübung ihrer gefährlichen Fähigkeiten Zurückhaltung aufzuerlegen.
Noch nie zuvor hatte Vespasia sie ängstlich erlebt, und sie jetzt so zu sehen beunruhigte sie. Es erfüllte sie mit einem Mitleid, von dem sie nie geglaubt hatte, es einer so stolzen und ungestümen Frau gegenüber je empfinden zu können.
»Gehen denn von solchen Geheimnissen auch heute noch Gefahren aus?«, fragte sie in zweifelndem Ton. Sie bemühte sich um einen Mittelweg zwischen dem Versuch, Serafina einen Teil ihrer Angst zu nehmen, und der Gefahr, ihr den Eindruck zu vermitteln, sie behandele sie herablassend, indem sie ihr zu verstehen gab, ihr Wissen sei überholt und niemand mehr daran interessiert. In einer solchen Situation trat man leicht ins Fettnäpfchen.
»Aber natürlich!«, teilte ihr Serafina mit so großem Nachdruck mit, dass sich ihre Stimme dabei fast überschlug. »Wie kannst du nur fragen? Hast du denn alles Interesse an der Politik verloren? Was ist mit dir passiert?« Es war fast ein Vorwurf. Jetzt sprühte unverkennbar Zorn aus ihren dunklen Augen.
Vespasia merkte, wie diese Worte sie reizten, und sie unterdrückte sogleich den Impuls, es Serafina mit gleicher Münze heimzuzahlen. Hier ging es nicht um ihre persönliche Eitelkeit.
»Nicht im Geringsten«, gab sie zurück. »Aber mir fällt nichts ein, worauf sich mein Wissen aus der Vergangenheit auswirken könnte.«
»Früher hast du nicht gelogen«, sagte Serafina leise tadelnd, und mit einem Mal lachte sie so volltönend und laut, dass sich Vespasia von einem Augenblick auf den anderen um vierzig Jahre zurückversetzt fühlte. Unwillkürlich musste sie lächeln. Sie sah die Freundin und sich in einer Sommernacht auf der Terrasse einer Villa auf Capri. Der schwere Duft von Jasminblüten erfüllte die Luft, und jenseits des Wassers ragte der Doppelgipfel des Vesuvs vor dem Himmel auf. Der Wein war süß. Jemand hatte einen Scherz gemacht, über den alle gelacht hatten.
Das durchgebrannte Scheit fiel in die Glut. Der Funkenschauer, der dabei aufstob, brachte
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