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Mord in Dorchester Terrace: Ein Thomas-Pitt-Roman (German Edition)

Mord in Dorchester Terrace: Ein Thomas-Pitt-Roman (German Edition)

Titel: Mord in Dorchester Terrace: Ein Thomas-Pitt-Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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nicht gekommen. Serafina schien nicht die geringste Vorstellung davon zu haben, wer die Besucherin war, als sei ihre ganze Vergangenheit ausgelöscht und als hätten sie nicht in Freundschaft miteinander Dinge erlebt, die man nie vergaß.
    »Bestimmt wollen Sie beide sich eine Weile miteinander unterhalten«, sagte die Großnichte freundlich. »Überanstreng dich aber nicht, Tante Serafina.« Diese Mahnung galt mittelbar Vespasia. »Ich leg noch rasch Holz im Kamin nach, bevor ich gehe. Wenn du etwas brauchst, läute einfach. Die Glocke steht neben dir. Ich komme dann sofort.«
    Serafina nickte kaum merklich, den Blick nach wie vor auf die Besucherin gerichtet. In ihren Augen lag inzwischen der Ausdruck eines allmählichen Erkennens, als kehrte nach und nach ihr Verstand zurück.
    »Danke«, sagte Vespasia. Es gab keine Möglichkeit, sich zu entziehen. Jetzt zu gehen wäre unentschuldbar gewesen, wie ausgeprägt der Wunsch danach auch sein mochte.
    Die Großnichte trat an den Kamin, schürte das Feuer ein wenig, sodass die Funken stoben, und legte sorgfältig ein frisches Scheit auf die Glut. Dann richtete sie sich auf und lächelte Vespasia zu: »Es war wirklich sehr aufmerksam von Ihnen zu kommen«, wiederholte sie. »Ich lasse Sie jetzt eine Weile mit Tante Serafina allein.« Mit diesen Worten öffnete sie die Tür und verließ den Raum.
    Vespasia setzte sich auf den Stuhl neben dem Bett. Was um Himmels willen konnte sie Sinnvolles sagen? Sich nach Serafinas Ergehen zu erkundigen wäre beinahe gleichbedeutend damit gewesen, sie zu verhöhnen.
    Da ergriff überraschend Serafina das Wort. »Danke, dass du gekommen bist«, sagte sie mit leiser Stimme. »Ich hatte schon befürchtet, niemand würde es dir sagen. Von Zeit zu Zeit habe ich schlechte Tage, und ich vergesse alles Mögliche. Ich rede zu viel.«
    Vespasia sah sie an. Die Leere in ihren Augen war einer tiefen Besorgnis gewichen. Verzweifelt suchte Serafina Verständnis in dem Gesicht der Freundin. Es kam Vespasia vor, als sei die Frau, die sie einst gekannt hatte, zurückgekehrt, wenn auch vielleicht nur für einen kurzen Augenblick.
    »Der Sinn eines Besuchs besteht darin, dass man miteinander redet«, erwiderte Vespasia freundlich. »Wenn man mit seinen Gedanken allein daliegt und es einem womöglich nicht gut geht, besteht die einzige Freude, die man hat, darin, mit Menschen zu reden und Gedanken mit ihnen auszutauschen, ein wenig zu lachen und sich an all das zu erinnern, was einem in der Vergangenheit am Herzen lag. Ich wäre sehr enttäuscht, wenn du nicht mit mir redetest.«
    Es schien, als müsse sich Serafina bemühen, Worte für etwas zu finden, was sich ihr entzog.
    Sogleich fürchtete Vespasia, ohne jede Absicht Druck auf Serafina ausgeübt zu haben. Daran hatte sie nicht im Traum gedacht. Aber wie konnte sie jetzt von dem Gesagten abrücken, ohne dass es lächerlich wirkte?
    »Gibt es etwas, was dir am Herzen liegt, sodass du gern darüber reden würdest?«, fragte sie.
    »Ich vergesse so vieles.«
    »Das geht mir ebenso«, versicherte ihr Vespasia. »Auf das meiste davon kommt es sowieso nicht an.«
    »Manchmal bringe ich durcheinander, was früher war und was heute ist«, fuhr Serafina fort und sah Vespasia an, als stehe sie am Rande eines Abgrundes, in dem ein Ungeheuer darauf wartete, sie zu verschlingen.
    Vespasia überlegte, was sie antworten sollte, und merkte, dass sie dem, was Serafina so wichtig zu sein schien, mit nichts, was ihr einfiel, würde gerecht werden können. Serafina hatte erkennbar Angst. Ihre Äußerung war keine bloße Entschuldigung dafür gewesen, dass sie mitunter Dinge ein wenig durcheinanderbrachte. Anscheinend reichte ihr Entsetzen vor der Aussicht, die Herrschaft über den eigenen Verstand zu verlieren, tiefer und war weit begründeter, als Vespasia angenommen hatte.
    Vespasia legte ihre Hand auf die Serafinas und spürte, wie schlaff das Fleisch und wie dünn die Knochen darunter waren. Dabei hatte diese Frau Pferde auf eine Weise im Galopp geritten, wie es nur wenige Männer gewagt hätten, den blitzenden Säbel in der Faust mit tödlicher Geschwindigkeit und einer Anmut geschwungen, der eine eigene Art von Schönheit innewohnte. Ihr sicheres Auge und ihre ruhige Hand hatten sie zu einer erstklassigen Schützin gemacht, gleich, ob mit der Pistole oder dem Gewehr – und diese Hand war jetzt kraftlos und schlaff.
    »Wir alle vergessen«, sagte Vespasia freundlich. »Junge Leute vielleicht nicht so sehr, aber sie

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