Mord in Dorchester Terrace: Ein Thomas-Pitt-Roman (German Edition)
verbergen.
»Dann wird es in der Mitte zu einem Machtvakuum kommen«, fuhr Blantyre fort. »Auch wenn Sie sich Großbritannien noch so gern als das Zentrum Europas vorstellen – so verhält es sich nicht. Die Macht unseres Weltreichs ist über den ganzen Erdball verstreut. Wir verfügen im Herzen Europas über kein Heer und sind dort nirgendwo vertreten. Sofern eintritt, was ich befürchte, wird ein Chaos ausbrechen. Österreich wird gemeinsam mit dem Deutschen Reich den slawischen Völkern im Norden und Osten an die Kehle gehen, woraufhin diese ihren alten Verbündeten Russland zu Hilfe rufen werden.
Der Krieg, der dann ausbricht, wird auf ganz Europa übergreifen. Allgemeiner wirtschaftlicher Niedergang wird die Folge sein, und am Ende wird möglicherweise ein neues und alles beherrschendes Deutschland stehen. Ist Ihnen das friedliche Dahinscheiden einer alten Frau im Schlaf so wichtig, dass Sie den Fall unbedingt aufklären wollen, wo es weit wichtiger wäre, einen österreichischen Herzog zu beschützen, damit er nicht auf englischem Boden ermordet wird, in der Hauptstadt des einzigen anderen wahrhaft bedeutenden Reiches auf der Welt?«
»Nicht darum geht es mir«, sagte Pitt gelassen und sah Blantyre an. »Es ist zur Zeit nicht meine Absicht, in dieser Sache zu ermitteln, und möglicherweise werde ich es überhaupt nicht tun. Wohl aber muss ich wissen, ob die Angaben, die Sie dem Staatsschutz in Bezug auf Herzog Alois und die Morddrohung gemacht haben, den Tatsachen entsprechen.«
Blantyre hob die Brauen. »Welchen Grund hätten Sie, daran zu zweifeln? Sicher ist Ihnen klar, dass niemandem mehr als mir daran liegt, die Ermordung eines österreichischen Herzogs zu verhindern. Was glauben Sie, warum ich sonst Dragovic an die Österreicher ausgeliefert hätte? Er hatte die Ermordung eines Ortskommandanten geplant. Zwar war der Mann unbestreitbar ein ganz besonders brutaler Schweinehund, doch wäre die Vergeltung für seinen Tod entsetzlich gewesen.« Er beugte sich vor. Sein Gesicht war von Leidenschaft verzerrt. »Überlegen Sie doch, zum Kuckuck! Nutzen Sie Ihr Gehirn. Natürlich möchte ich nicht, dass man Herzog Alois ermordet.«
Pitt lächelte. »Es sei denn, dass es sich auch bei ihm um einen Abweichler handelt. In dem Fall käme es Ihnen doch wie gerufen, wenn man ihn hier in London umbrächte. Dann würden nicht die Österreicher die Schuld daran tra gen, sondern die unfähigen Briten, allen voran der neue Mann an der Spitze der Staatsschutzabteilung, der sich jeden Bären aufbinden lässt.«
Blantyre seufzte matt. »Geht es um Ihre Beförderung und darum, dass Sie sich Ihrem Amt nicht gewachsen fühlen?«
Pitt biss die Zähne fest aufeinander, um nicht die Beherrschung zu verlieren.
»Es geht darum, dass die überwiegende Mehrheit an Informationen im Zusammenhang mit dem geplanten Anschlag von Ihnen kam. Da muss die Frage erlaubt sein, ob Sie, ein Lügner und Mörder, sich in erster Linie der Krone der Habsburger verpflichtet fühlen statt Ihrem Heimatland«, gab er zurück, wobei er sich bemühte, seine Stimme nicht zu heben. »Sofern Herzog Alois Ihr Feind und nicht Ihr Freund wäre, würden Sie ihn ohne das geringste Bedauern an einem Ihnen genehmen Ort ermorden lassen. Wenn ich es recht bedenke, würden Sie das sogar tun, wenn er Ihr Freund wäre, sofern er Ihren Vorstellungen im Wege stünde.«
Blantyre zuckte zusammen, sagte aber kein Wort.
»Es besteht auch die Möglichkeit, dass gar kein Anschlag geplant ist«, fuhr Pitt fort. »Sie wollten einfach den Staatsschutz und die Polizei anderweitig beschäftigen, damit sich niemand um den Mord an Serafina Montserrat und Ihrer Gattin kümmert, die umzubringen Sie sich, gewiss zu Ihrem großen Bedauern, ebenfalls genötigt sahen. Sobald Sie erfahren hatten, dass Mrs. Montserrat den Verstand zu verlieren begann, war Ihnen klar, dass sie sie würden aus dem Wege räumen müssen, weil sonst die Gefahr bestand, dass Ihre Frau hinter Ihr Geheimnis kam. Da Sie wussten, dass sie Ihnen den Verrat an ihrem Vater nie verzeihen würde, sahen Sie sich unter Zugzwang, und Ihrer festen Überzeugung nach mussten Sie selbst unbedingt weiterleben, weil Sie andernfalls Österreich nicht dabei helfen könnten, die Herrschaft über den rasch zerfallenden Vielvölkerstaat zu bewahren. Darum geht es offenbar.«
Blantyres Kiefermuskeln waren angespannt, und er sah Pitt mit bösem Blick an, als habe sich dieser von einem Augenblick auf den anderen in ein abscheuliches
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