Mord in Dorchester Terrace: Ein Thomas-Pitt-Roman (German Edition)
Wesen verwandelt.
»Ihre Einschätzung trifft zu«, stieß er zwischen den Zähnen hervor, »aber Sie sind unsicher, ob ich Ihnen die Wahrheit gesagt habe, nicht wahr? Vermutlich haben Sie jede meiner Angaben überprüft; zumindest hätten Sie das tun müssen. Falls Sie das unterlassen haben sollten, sind Sie ein weit größerer Dummkopf, als ich angenommen hatte. Haben Sie den Mut, meinen Worten zu vertrauen?« Er lächelte schmallippig. »Ich bin sicher, dass Sie es auf keinen Fall wagen werden, sie außer Acht zu lassen.«
Es kam Pitt so vor, als versinke der Boden unter seinen Füßen.
»Seien Sie auf der Hut, Pitt«, mahnte ihn Blantyre. »Überlegen Sie gut, wie Sie vorgehen wollen, sobald Herzog Alois abgereist ist – immer vorausgesetzt, es gelingt Ihnen, den Mann heil aus dem Land zu bringen. Kommen Sie ja nicht auf den Gedanken, mich festnehmen oder vor Gericht stellen zu wollen.« Mit kaum wahrnehmbarem Lächeln fuhr er fort: »Ich war ziemlich oft bei Serafina und habe mir angehört, was sie zu sagen hatte. Meist wusste sie nicht, wer ich bin. Aber das ist Ihnen bereits bekannt. Sicher haben Sie das von Lady Vespasia gehört, wenn nicht noch mehr.«
»Selbstverständlich«, gab Pitt in beißendem Ton zurück. »Wenn Sie nicht hätten befürchten müssen, dass sie auch anderen gegenüber offen redete, hätten Sie das Risiko nicht auf sich genommen, sie umzubringen.«
»So ist es. Es hat mir auch leidgetan«, sagte Blantyre mit leichtem Achselzucken. »In jungen Jahren war sie ein Prachtweib und hat meines Wissens mehr persönliche und politische Geheimnisse gekannt als sonst jemand.«
Pitt spürte eine Veränderung: Von Blantyre ging mit einem Mal Wärme aus, während er selbst voll Kälte war.
Blantyre nickte leicht. »Ich sehe, dass Sie mich verstehen. Ich habe ihr äußerst aufmerksam zugehört. Sie hat über alles Mögliche und alle möglichen Personen geredet. Manches hatte ich mir bereits gedacht, doch vieles war mir neu. Mir war nicht bewusst gewesen, wie weit sich der Kreis erstreckte, in dem sie sich bewegt hatte. Dass dazu Österreicher, Ungarn, Kroaten und Italiener gehörten, hatte ich angenommen. Aber es ging noch weiter, denn zu ihren Bekannten und Vertrauten zählten auch Franzosen, Deutsche und natürlich Briten. In dem Zusammenhang habe ich dies und jenes erfahren, was mich sehr überrascht hat.« Er sah Pitt unverwandt an, als wolle er sich vergewissern, dass dieser die Bedeutung seiner Worte erfasste.
Pitt dachte an Tregarron, der sich ebenfalls Nerissa Freemarshs als Vorwand für seine Besuche bei Mrs. Montserrat bedient hatte. Was mochte der Mann fürchten, was so viel schlimmer wäre als die öffentlich geäußerte Vermutung, er habe eine Affäre mit einer unscheinbaren und nichtssagenden ledigen Frau, mehr oder weniger vor der eigenen Haustür? Es war verachtenswert, einen verletzlichen Menschen, dessen Ruf damit für alle Zeiten zugrunde gerichtet wurde, in dieser Weise zu benutzen. Wenn das je bekannt würde, wäre für sie jede Aussicht dahin, einen achtbaren Ehemann zu finden.
»Der britische Staatsschutz und verschiedene andere diplomatische und geheimdienstliche Stellen verfügen über ein Archiv mit Unterlagen über äußerst zweifelhafte Aktionen«, fuhr Blantyre fort. Seine Stimme wurde ein wenig leiser. »Manche davon haben sie erpressbar gemacht, mit allen sich daraus ergebenden hässlichen Konsequenzen. Außerdem gibt es Idealisten, denen bestimmte Werte wichtiger sind als kleingeistige Vaterlandsliebe. Ganz wie Sie war Serafina auf den englischen Horizont fixiert und hat geschwiegen.« Er ließ offen, was das bedeutete. Es war nicht nötig, es ausdrücklich zu formulieren.
Pitt sah ihn an. Er zweifelte keine Sekunde lang daran, dass der Mann jedes seiner Worte ernst meinte. Seine Selbstsicherheit und Überheblichkeit schienen den ganzen Raum zu erfüllen.
Mit breitem Lächeln fuhr Blantyre fort: »Ihr Vorgänger Narraway hätte mich umgebracht.« Es klang fast begeistert. »Sie werden nichts dergleichen tun, denn Ihnen fehlt der Mut dazu. Mag sein, dass Sie das erwägen, doch werden Sie es nicht über sich bringen. Ihr Schuldbewusstsein würde Sie niederdrücken.«
Ein verachtungsvoller Blick trat in seine Augen und zugleich ein Ausdruck von tiefem Schmerz, als bedeuteten ihm seine Worte mehr, als Zeit oder Umstände erklären konnten.
»Ich kann Sie gut leiden, Pitt«, sagte er voll Aufrichtigkeit und geradezu mit Rührung in der Stimme. »Sie sind nicht
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