Mord in Dorchester Terrace: Ein Thomas-Pitt-Roman (German Edition)
nur ein kluger, einfallsreicher und einfühlsamer Mensch, sondern haben auch Humor. Aber Ihnen fehlt es an Härte. Daher können Sie nicht über das hinausgehen, was voraussagbar ist und was Ihren Seelenfrieden sichert. Sie sind den Konventionen zu sehr verhaftet, die Ihnen vorschreiben, was Sie zu tun und zu lassen haben. Kurz gesagt, Sie sind im Kleinbürgerlichen stecken geblieben, ganz wie mein Vater.«
Er holte tief Luft. »Jetzt sollten Sie besser gehen und dafür sorgen, dass man Herzog Alois nichts antut. Sie können es sich nicht leisten, dass man ihn hier in England erschießt.«
Pitt stand auf und verließ wortlos den Raum. Er hätte dem Mann keine sinnvolle Antwort zu geben vermocht.
Er ging über die vom Wind gepeitschte Straße davon. Trotz der Sonne, die tief am Himmel stand und ein scharfes spätwinterliches Licht erzeugte, überlief ihn ein Kälteschauer. Hatte Blantyre mit seiner Behauptung recht, Narraway hätte ihn erschossen, während Pitt nicht den Mut haben würde, wenn es darauf ankäme? Würde er tatsächlich mit einer Pistole in der Hand dastehen, unfähig, sie kaltblütig auf einen Mann abzufeuern, den er kannte und gut hatte leiden können?
Er wusste die Antwort nicht. Er war nicht einmal sicher, welche der beiden Haltungen ihm lieber wäre. Wenn er zu einer solchen Handlungsweise imstande wäre, was würde er damit gewinnen außer dem Recht, die Stellung zu bekleiden, die er innehatte? Doch dazu waren auch Intelligenz, Urteilskraft und viele andere Fähigkeiten erforderlich. Was würde er damit verlieren? Seine Kinder würden es möglicherweise nie erfahren, aber trotzdem würde es als Schranke zwischen ihm und ihnen stehen, weil er selbst es wusste.
Und für wie skrupellos würde Charlotte ihn halten, die ihn so nicht kannte und sicher auch nicht kennen wollte? Oder Lady Vespasia? Oder sonst jemand? Davon aber abgesehen, wie würde er vor sich selbst dastehen? Auf welche Weise würde ihn das zu einem anderen Menschen als dem machen, der er jetzt war? Hatte Blantyre recht – ging es ihm tatsächlich letzten Endes um seinen Seelenfrieden?
Er schritt rasch aus, ohne zu wissen, wohin er ging. Er befand sich einen guten halben Kilometer vom Außenministerium entfernt, wo Jack arbeitete. Jetzt gab es um Blantyre keine Geheimnisse mehr. Er wusste das Schlimmste. Die Entscheidung über das, was zu tun war, musste er aus seinem inneren Aufruhr heraus treffen. Was Blantyre getan hatte und tat, lag ebenso offen zutage wie die Gründe dafür.
Schon als Victor Narraway in Lady Vespasias Salon trat, war ihr bewusst, dass er unangenehme Nachrichten brachte. Sein Gesicht war von Sorge gezeichnet, und er schien zu frieren.
Ohne es selbst zu merken, stand sie zu seiner Begrüßung auf.
»Was gibt es, Victor? Was ist geschehen?«
Seine Hände, mit denen er flüchtig nach den ihren griff, waren eiskalt, aber sie zog ihre nicht zurück.
»Ich habe noch etwas über Serafina Montserrat erfahren, was möglicherweise bedeutungsvoller ist, als ich angenommen hatte. Tregarron hat sie mehrere Male in ihrem Haus in Dorchester Terrace aufgesucht. Anfangs hatte ich angenommen, dass diese Besuche in erster Linie ihrer Großnichte galten …«
»Was denn – Nerissa Freemarsh?« Einen Augenblick lang hatte sie das Bedürfnis, über diese Vorstellung zu lachen, doch dann erstarb der Impuls. »Tatsächlich? Bist du deiner Sache sicher?«
»Nein. Bisweilen entwickeln Männer den sonderbarsten Geschmack, wenn es um Verhältnisse mit Frauen geht, die sich so weit wie möglich von der eigenen unterscheiden. Vielleicht macht ja der Reiz der Gefahr oder auch des Abwegigen einen Teil der Verlockung aus. Inzwischen aber bin ich zu der Ansicht gelangt, dass sie lediglich als Vorwand für seine Besuche bei der Großtante herhalten musste.«
»Serafina war aber doch mehrere Jahrzehnte älter als er, und es gibt keinen Hinweis darauf, dass sie einander kannten. Genau genommen gibt es nichts, was dergleichen auch nur vermuten lässt«, gab sie zu bedenken.
»Sein Vater hat sie gekannt«, sagte Narraway erbittert und sah Vespasia aufmerksam an. »Und zwar sehr gut.«
»Ach je. Ich verstehe. Und jetzt nimmst du an, dass sie sich möglicherweise auch in Bezug darauf Indiskretionen hat zuschulden kommen lassen. Oder vielleicht könnten andere den Schluss ziehen, dass der gegenwärtige Lord Tregarron sie aufgesucht hat, weil er fürchtete, dass sie etwas Unpassendes sagen könnte. Wen oder was will er denn damit schützen?
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