Mord in Dorchester Terrace: Ein Thomas-Pitt-Roman (German Edition)
Etwa den Ruf seines Vaters? Lebt seine Mutter noch?«
»Ja. Sie ist zwar sehr alt, hat aber ihre sieben Sinne noch vollständig beisammen«, sagte er mit betrübter Miene. »Was für eine enorme Last es sein muss, so viele Geheimnisse zu kennen, ganz gleich, auf welche Weise man sie erfahren hat. Wie viel sicherer wäre es doch, nichts von all dem zu verstehen, was um einen herum geschieht. Am besten wäre es, wenn man gar nicht erst den Versuch machte, den Sinn dahinter zu erfassen.«
Er brauchte nicht mehr zu sagen. Sie beide trugen die Last ihres Wissens mit sich herum, das sie zwar auf unterschiedliche Weise gewonnen hatten, das aber wohl annähernd gleich lastend war.
Sie saßen eine Weile am Feuer beisammen, dann sprang er auf und verabschiedete sich.
Nachdem er in die Dunkelheit der Straße hinausgetreten war, wo ein recht böiger Wind wehte, blieb sie am ersterbenden Feuer sitzen und dachte über seine Worte nach. Natürlich würde Lord Tregarron wünschen, dass seine Mutter nie von der Affäre ihres Mannes mit Serafina erfuhr, immer vorausgesetzt, sie war ihr nicht längst bekannt. Doch erschien Vespasia das kein hinreichender Grund dafür, dass Lord Tregarron nach all den Jahren Serafina plötzlich so häufig aufgesucht hatte. Da musste es etwas anderes gegeben haben, was möglicherweise sehr viel hässlicher und gefährlicher war als bloße eheliche Untreue, die bedauerlicherweise nicht so selten war, wie man wünschen konnte.
Ihr blieb nichts anderes übrig, als ihre eigenen Nachforschungen zu betreiben. In gut vierzig Stunden würde der Habsburger Herzog Alois in Dover an Land gehen, da war vornehme Zurückhaltung fehl am Platz. Zwar hätte sie den Gedanken, der ihr gekommen war, am liebsten verdrängt, doch sie wusste, dass sie keine andere Möglichkeit hatte, als festzustellen, worum es bei diesem möglicherweise gefährlichen Wissen ging. Hier war ein Punkt erreicht, an dem es schlimmer wäre, der Sache auszuweichen, als unverblümt Fragen zu stellen.
Das Versprechen des Frühlings lag in der hellen Luft, als sie am folgenden Tag um Viertel vor zehn am Cavendish Square aus ihrer Kutsche stieg. Sie hatte Bischof Magnus Collier, der etwas älter war als sie und bereits eine ganze Weile im Ruhestand lebte, schon lange nicht mehr gesehen – sicher über zwei Jahrzehnte. Dank einem glücklichen Zufall aber wusste sie von gemeinsamen Bekannten, wo er wohnte. Während sie den Gehweg überquerte und die Stufen zur Haustür emporstieg, überkam sie flüchtig der Wunsch, die ganze Sache auf sich beruhen zu lassen. Sogleich schämte sie sich dieses Anflugs von Feigheit.
Der Lakai, der ihr öffnete, wusste nicht, wer sie war. Sie gab ihm ihre Karte und teilte ihm mit, sie sei eine alte Bekannte seines Herrn und die Sache sei dringend.
Er machte ein zweifelndes Gesicht.
»Seine Lordschaft wird es nicht zu schätzen wissen, wenn Sie mich einfach hier draußen stehen lassen«, sagte sie kalt.
Er bat sie herein und führte sie mit einem Minimum an Höflichkeit in ein Empfangszimmer, in dem noch kein Feuer brannte. Nach einer vollen Viertelstunde, inzwischen war sie ziemlich durchgefroren, kehrte er mit gerötetem Kopf zurück und führte sie ins Studierzimmer, in dessen Kamin ein munteres Feuer flackerte. Die Wärme im Raum umhüllte sie, sodass sie sich sogleich behaglich fühlte.
Sie nahm den angebotenen Tee an und musterte die Buchrücken in den Regalen. Viele der Titel kannte sie von früher, obwohl es sich dabei um Werke handelte, die sie selbst nie gelesen hatte. Ihrer Ansicht nach hatten sich die frühen Kirchenväter mit zu vielen Kleinigkeiten herumgeschlagen und kamen ziemlich aufgeblasen daher.
Sie wandte sich um, als sie hörte, wie sich die Tür öffnete und schloss. Auf dem hageren Gesicht des Bischofs lag ein sonderbar neugieriges Lächeln. Er war sehr schmächtig, und seine Haare waren vollkommen weiß, doch die Wärme in seinem Blick hatte sich nicht geändert, und er schien von der gleichen wachen Intelligenz zu sein wie eh und je.
»Mein ganzes Leben hindurch war es eine Freude, dich zu sehen«, sagte er ruhig. »Aber es macht mir Sorge zu hören, dass die Sache dringend ist. Angesichts unseres letzten Abschieds muss sie das in der Tat sein, wenn du eigens herkommst. Was kann ich für dich tun?«
»Entschuldigung«, sagte sie leise. Es war ihr ernst damit. Die unmöglichen Empfindungen lagen weit in der Vergangenheit, dennoch war es eine kluge Entscheidung gewesen, dass sie einander
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