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Mord in Dorchester Terrace: Ein Thomas-Pitt-Roman (German Edition)

Mord in Dorchester Terrace: Ein Thomas-Pitt-Roman (German Edition)

Titel: Mord in Dorchester Terrace: Ein Thomas-Pitt-Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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als du.«
    »In dem Fall weiß ich, wen du meinst. Ich habe von ihr aber nur am Rande gehört. Dabei ging es um Angelegenheiten auf dem Kontinent, die überwiegend mit vorübergehend aufflackernden revolutionären Bestrebungen in der Donaumonarchie und dem Streben der Italiener nach Unabhängigkeit zusammenhingen«, gab er zurück.
    »Es würde ihr äußerst missfallen zu hören, dass jemand unsere damaligen Bemühungen als ›vorübergehend aufflackernde Bestrebungen‹ bezeichnet«, bemerkte sie trocken. In ihren Augen lag Belustigung, aber zugleich ein gewisser Schmerz.
    »Warum fragst du nach ihr? Ist ihr etwas zugestoßen?«, wollte er wissen.
    »Die Zeit hat ihr mehr zugesetzt als den meisten von uns«, gab sie betrübt zurück.
    »Ist sie krank? Vespasia, diese verschnörkelte Art zu reden kenne ich an dir gar nicht.« Er beugte sich vor, seine Gelassenheit war wie fortgeblasen. »Was macht dir Sorgen? Wir kennen einander doch gut genug, dass wir nicht lange um den heißen Brei herumzureden brauchen.«
    Ihre Anspannung begann sich zu lösen. Es schien, als habe ihr jemand einen Teil der Last abgenommen.
    »Sie leidet an starkem Gedächtnisverlust«, sagte sie schließlich. »Der geht so weit, dass sie in die Vergangenheit zurückgleitet und meint, sie sei wieder jung und befinde sich inmitten aller möglichen politischen Machenschaften, umgeben von Menschen, die nicht mehr leben oder zumindest längst den verdienten Ruhestand genießen.«
    Bei diesen Worten erkannte er in ihren Augen mehr als nur Mitgefühl. Es schien ihm so etwas wie Angst zu sein, doch war ihm nach wie vor nicht klar, was sie so sehr beunruhigte.
    Während er wartete, sah er zu, wie die Schatten des Kaminfeuers auf ihrem Gesicht tanzten.
    Sie nahm eine Scheibe Toast und bestrich sie mit Pastete, biss aber nicht hinein. »Sie fürchtet, unbeabsichtigt wichtige Geheimnisse zu verraten«, teilte sie ihm mit. »Hältst du das für möglich? Ihre Großnichte, sie heißt Nerissa Freemarsh, hat mir versichert, dabei handele es sich weitgehend um Produkte der Vorstellungskraft ihrer Großtante. Sie hat durchblicken lassen, dass sie sich ihrer Ansicht nach in Fantasien flüchtet, um etwas Abwechslung in ihr unerträglich ödes Leben zu bringen und sich damit interessant zu machen. Du weißt ebenso gut wie ich, dass sie in der Tat nicht der erste Mensch wäre, der die Wirklichkeit ausschmückt, um die Aufmerksamkeit anderer zu erregen.«
    Sie senkte den Blick, als schäme sie sich, diesen Hinweis auf etwas gemacht zu haben, was so nahelag. »In ihrer Situation wäre das nur allzu verständlich. Wenn ich ans Bett gefesselt wäre, allein und bei fast jedem Handgriff auf die Hilfe anderer angewiesen, vor allem solcher, die nichts von meinem Leben wüssten und deren ganzes Denken um ihr eigenes kreist, würde ich mich womöglich auch in Erinnerungen an eine Zeit flüchten, in der ich stark und mutig war, tun konnte, wonach mir der Sinn stand, und jederzeit die Möglichkeit hatte, überall hinzugehen, wohin ich wollte. Niemand, der einst zu bestimmen hatte, möchte bitten müssen und anderen verpflichtet sein.«
    Auch er fürchtete eine solche Möglichkeit. Er war zwar körperlich und geistig ganz und gar auf der Höhe, befand sich aber beruflich bereits auf dem Abstellgleis. Vielleicht erwartete ihn ein langsamer Abstieg in die vollständige Bedeutungslosigkeit, wenn nicht gar zum Schluss in die völlige Hilflosigkeit, von der Vespasia mit so großem Einfühlungsvermögen gesprochen hatte. Worte drängten sich ihm auf, mit denen er das bestreiten wollte, doch ließ er sie ungesagt, als er ihren verständnisvollen Blick sah.
    »Und was soll ich da tun?«, fragte er.
    Sie dachte nur einen kurzen Augenblick lang nach. »Ich weiß dies und jenes über sie, in erster Linie Dinge, die mit den 48er-Revolutionen und dem Einigungsstreben Italiens und dessen Drang zusammenhängen, sich vom Joch der Donaumonarchie zu befreien. Aber seit jener Zeit sind Serafina und ich einander nur selten begegnet und haben dabei nie in Einzelheiten über diese Themen gesprochen. Ich weiß, dass sie sich mit großem Nachdruck eingesetzt und dabei außergewöhnlichen Mut an den Tag gelegt hat, weit mehr als ich. Aber waren ihr wirklich Geheimnisse bekannt, die jetzt noch von Bedeutung sein könnten? All das liegt doch mittlerweile so lange zurück. Gibt es noch Menschen, denen daran liegen könnte zu wissen, wer damals was gesagt oder getan hat?«
    Er dachte einige Minuten lang nach,

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