Mord in Dorchester Terrace: Ein Thomas-Pitt-Roman (German Edition)
Außenministerium an, den er aus seiner Zeit beim Staatsschutz kannte, und verabredete sich mit ihm für den Abend. Dessen vor einigen Jahren verstorbener Vater hatte mit Deutsch und Ungarisch die beiden wichtigsten der elf in der Donaumonarchie gängigen Sprachen gesprochen und war damit ein Spezialist für jenen Vielvölkerstaat geworden, der sich in der Nachfolge des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, das Europa im Mittelalter beherrscht hatte, als legitimen Erben von Macht und Einfluss des römischen Weltreichs der Antike betrachtete.
Zur Vorbereitung seines Besuchs brachte er den größten Teil des Tages damit zu, im Lesesaal des Britischen Museums seine Erinnerungen an die Geschichte Österreich-Ungarns in den zurückliegenden fünf oder sechs Jahrzehnten aufzufrischen. Dabei interessierte er sich insbesondere für Aufstände und Unruhen in den zahlreichen Völkerschaften jenes Reiches, die nach größerer Selbstständigkeit strebten. Es überraschte ihn nicht im Geringsten, dabei zu erfahren, dass Serafina italienischer Abstammung war. Österreich hatte sich Venedig und Triest einverleibt, mit ihrem jeweiligen Umland. Venedig hatte inzwischen seine Freiheit wiedererlangt, nicht aber Triest.
Serafinas Name tauchte nicht oft auf, und wenn, dann nur am Rande, so, als sei er nicht besonders wichtig. Hatte sie sich, wie von ihrer Großnichte behauptet, die Sache mit den von ihr gehüteten bedrohlichen Geheimnissen nur ausgedacht, um einem Leben, das ihr rasch entglitt, nachträglich größere Bedeutung zu verleihen?
Nach dem Abendessen suchte er Tregarrons Haus am Gloucester Place auf. Als er aus der Droschke stieg, fiel eiskalter Regen auf die Gehwegplatten. Der Lakai, der auf sein Klingeln hin an die Tür gekommen war, führte ihn sogleich in das eichengetäfelte Arbeitszimmer, in dem Reihen in Leder gebundener Bücher zahlreiche Regale füllten und an zwei dafür freigelassenen Stellen Bilder von der Küste Cornwalls hingen. Der Hausherr kam herein, kaum dass Narraway eingetreten war.
»Guten Abend«, begrüßte er seinen Besucher munter. »Darf ich Ihnen etwas anbieten? Cognac? Eine anständige Zigarre?
Wenn Sie sich um diese Stunde und bei dem Wetter von Ihrem Kaminfeuer losreißen, kann das nur bedeuten, dass es um etwas Wichtiges geht.« Einladend wies er auf einen mächtigen Ledersessel.
»Nein, danke.« Narraway lehnte die angebotene Zigarre ab, während er es sich gemütlich machte. »Ich möchte Sie nicht unnötig lange aufhalten. Es ist sehr entgegenkommend von Ihnen, mir Ihre Zeit zur Verfügung zu stellen.«
»Alte Gewohnheit«, sagte Tregarron trocken, setzte sich ihm gegenüber, lehnte sich zurück und schlug die Beine übereinander. »Was kann ich für Sie tun? Sie sagten, es gehe um die Donaumonarchie. Da herrscht ein ziemliches Tohuwabohu, vor allem nach der schrecklichen Geschichte in Mayerling.« Auf seinem Gesicht mischten sich nun Bedauern und Widerwillen. »Da bringt sich der einzige Sohn des Kaisers, der Thronerbe, zusammen mit seiner Geliebten in seinem Jagdschloss um. Immer vorausgesetzt, dass es sich tatsächlich so verhalten hat.«
»Bestimmt nicht«, sagte Narraway knapp. »Es sei denn, er war verrückt. Kein Kronprinz nimmt sich das Leben, weil er seine Geliebte nicht heiraten kann. Falls solche Leute eine Gattin haben, die sie zu Tode langweilt oder ihnen das Leben zur Hölle macht, leben sie einfach getrennt von ihr. Ich wollte, ich hätte so oft gut zu Abend gegessen, wie Herrscher genau das getan haben. Soweit ich weiß, hält sich auch der alte Kaiser eine Mätresse – dabei hat er seinerzeit, wie es heißt, aus Liebe geheiratet.«
Tregarron lächelte und entblößte dabei seine kräftigen Schneidezähne. »Mein Vater hat viele Jahre in Wien verbracht und immer gesagt, eigentlich habe man Franz Joseph mit Sissis älterer Schwester verheiraten wollen, er habe sich aber Hals über Kopf in Sissi verliebt und sich um keinen Preis davon abbringen lassen.«
»Ja, Ihr Vater wusste über diese Dinge wohl Bescheid«, erwiderte Narraway. »In dem Fall aber ist es noch unglaubwürdiger, dass Rudolf seine Geliebte und danach sich selbst erschossen haben soll, nur weil er sie zu gegebener Zeit nicht zu seiner Kaiserin hätte machen können.«
»Sind Sie etwa wegen dieser Mayerling-Geschichte gekommen?«, erkundigte sich Tregarron. »In welcher Weise betrifft die unsere Regierung oder gar den Staatsschutz?«
»Nein, es hat nicht das Geringste mit Mayerling oder
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