Mord in Dorchester Terrace: Ein Thomas-Pitt-Roman (German Edition)
mit den vielen Bücherregalen und wenigen kleinen aquarellierten Seestücken. Das Feuer im Kamin brannte, und die Gaslampen warfen Lichtkreise auf Tisch und Fußboden. Er hatte ein leichtes Abendessen zu sich genommen und las in der Zeitung den Bericht über den Besuch eines englischen Politikers in Berlin. Vergeblich und geradezu verzweifelt suchte er nach einem Hinweis auf Neues oder etwas, was seine Neugierde erregte. So kam es, dass er geradezu begeistert war, als ihm sein Diener mitteilte, Lady Vespasia Cumming-Gould wolle ihn sprechen.
Mit einem Mal hellwach, setzte er sich aufrecht hin.
»Bitten Sie sie herein«, sagte er sofort. »Bringen Sie meinen besten Rotwein …«
»Könnte es sein, dass Sie weißen meinten, Sir?«, erkundigte sich der Diener zögernd.
»Nein, die Dame trinkt lieber roten«, gab Narraway mit Bestimmtheit zurück. »Und etwas Ordentliches zu essen. Dunkles Toastbrot – dünne Scheiben – und ein wenig Pastete.«
»Sehr wohl, Mylord«, sagte der Mann und betonte lächelnd den Titel, auf den er stolzer war als dessen Träger. Seiner festen Überzeugung nach war sein Herr eine bedeutende Persönlichkeit, die von der Regierung unterschätzt wurde, was er ihr nicht verzieh.
Narraway gönnte ihm die Freude. Der Mann diente ihm schon viele Jahre und hatte in guten wie in schlechten Zeiten zu ihm gehalten. Er verdiente es.
Im nächsten Augenblick kam Vespasia herein. Ihr Kleid war in einem dunklen Ton gehalten, der im Licht der Gaslampen weder blau noch lila aussah, sondern nach irgendetwas dazwischen – fast wie der Nachthimmel. Er hatte sie nie etwas Aufdringliches oder Grelles tragen sehen, doch wenn sie einen Raum betrat, sah niemand eine andere Frau an.
Er ging ihr entgegen. Sie war beinahe so groß wie er. Er erwog, ob er sie mit der üblichen Förmlichkeit begrüßen sollte, doch kannten sie einander inzwischen zu gut dafür, vor allem nach dem kürzlichen Fiasko in Irland und der Belagerung der Königin in ihrem Palast Osborne House auf der Isle of Wight, die sie gemeinsam mit der Monarchin durchgestanden hatten.
»Guten Abend, Victor«, sagte sie mit einem leisen Lächeln. Sie redeten einander seit jener Zeit mit Vornamen an, und das gefiel ihm mehr, als er zuzugeben bereit war. Niemand sonst benutzte in England seinen Vornamen.
»Vespasia.« Er sah sie aufmerksam an. Trotz ihrer üblichen Gefasstheit erkannte er in ihrem Blick Besorgnis. »Es hat doch nichts mit Thomas zu tun?«, fragte er, mit einem Mal selbst besorgt.
Sie lächelte. »Nein. Soweit mir bekannt ist, steht bei ihm alles zum Besten. Es ist durchaus möglich, dass das, womit ich zu dir komme, nicht wichtig ist, aber ich muss mir Gewissheit verschaffen.« Er wies auf den Sessel gegenüber dem seinen. Sie setzte sich mit einer einzigen anmutigen Bewegung, bei der sich ihre Röcke wie von selbst zu ordnen schienen.
»Du wärest nicht gekommen, wenn es nicht um etwas ginge, was dir wichtig ist«, sagte er. »Ich habe meine Langeweile doch hoffentlich nicht so offen zur Schau getragen, dass du gekommen sein könntest, um mich davor zu bewahren?«
Das unwillkürliche Lächeln, das er damit bei ihr auslöste, erhellte ihr Gesicht und brachte ihm ihre ganze strahlende Schönheit in Erinnerung.
»Ach je«, murmelte sie. »Ist es so schrecklich?«
»Unsagbar öde«, gab er zurück, während er die Beine übereinanderschlug und sich bequem zurücklehnte. »Jedenfalls meistens. Niemand sagt mir je etwas Interessantes. Entweder nehmen die Leute an, ich wisse bereits Bescheid – und es besteht ja auch eine gewisse Möglichkeit, dass es sich so verhält –, oder sie fürchten, dabei ertappt zu werden, wenn sie mit mir sprechen, und dass andere dann annehmen, dass sie mir finstere Geheimnisse anvertrauen.«
Der Diener kehrte zurück, stellte das Tablett mit dem Imbiss und den Schankkorb mit der Weinflasche auf den Couchtisch, goss etwas Wein in die Gläser und zog sich mit wenigen gemurmelten Worten zurück.
Vespasia nahm einen kleinen Schluck.
Narraway wartete.
»Kennst du Serafina Montserrat?«, begann sie.
Er suchte in seiner Erinnerung. »Ist sie so ungefähr in unserem Alter?«, fragte er. Das war ein Euphemismus, denn Vespasia war einige Jahre älter als er, aber das spielte eigentlich keine Rolle.
Sie lächelte. »Ich stelle fest, dass Gepflogenheiten des Oberhauses auf dich abfärben. Es entspricht gar nicht deiner Art, dich so gewunden auszudrücken. Sie ist etwas älter als ich und beträchtlich älter
Weitere Kostenlose Bücher