Mord in Dorchester Terrace: Ein Thomas-Pitt-Roman (German Edition)
Erzherzog Rudolf zu tun«, gab Narraway rasch zurück. »Es reicht sehr viel weiter in die Vergangenheit, möglicherweise dreißig Jahre, wenn nicht sogar vierzig oder fünfzig.«
»Gott im Himmel!«, sagte Tregarron verblüfft und fügte dann mit belustigtem Gesichtsausdruck hinzu: »Das war vor meiner Zeit. Was glauben Sie, wie alt ich bin?«
Narraway schmunzelte. »Ich dachte an Ihren Vater. Sie sagten doch, dass er viele Jahre in Wien gelebt hat …«
Es klopfte kurz an der Tür, worauf Lady Tregarron eintrat, eine mittelblonde Dame von Mitte vierzig. Ihre Gesichtszüge waren nicht besonders bemerkenswert, doch strahlte sie eine Gelassenheit aus, die den Eindruck vermittelte, als wisse sie nicht, was schlechte Laune sei. Alles in allem wirkte sie durchaus anziehend.
»Guten Abend, Lord Narraway«, sagte sie mit einem Lächeln. »Wie angenehm, Sie zu sehen. Dürfen wir Ihnen etwas anbieten? Vielleicht eine Tasse frisch aufgegossenen Tee? Ich nehme an, dass Sie bereits zu Abend gespeist haben. Falls aber nicht, könnte die Köchin Ihnen etwas zurechtmachen, und wäre es nur ein gutes Sandwich.«
»Eine Tasse Tee nehme ich gern an«, gab Narraway zurück. »Draußen herrscht ein abscheuliches Wetter.«
»Wirklich sonst nichts?«, erkundigte sie sich besorgt.
»Ich möchte Sie nicht lange stören. Ich kann schneller auf den Anlass meines Hierseins zu sprechen kommen, als ich es bisher getan habe.« Er wandte sich Tregarron zu. »Haben Sie je den Namen Serafina Montserrat gehört? Vielleicht im Zusammenhang mit Ereignissen in Österreich?«
Narraway erkannte ein leichtes Zucken auf Tregarrons Zügen, hätte aber unmöglich sagen können, was das zu bedeuten hatte.
»Montserrat«, sagte er in leicht fragendem Ton. »Nein, ich glaube nicht. An einen solchen Namen würde man sich ja wohl erinnern. Ist sie Italienerin? Oder vielleicht Spanierin?«
»Sie stammt aus Norditalien«, gab Narraway zurück. »Aus einem Gebiet, das von Österreich besetzt war.«
Tregarron schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, ich habe keine Ahnung.«
Seine Gattin ließ den Blick zwischen den beiden Männern hin und her wandern und entschuldigte sich dann, weil sie das Mädchen bitten wollte, Tee zu bringen.
Es war Narraway bewusst, dass Tregarron nicht die Wahrheit sagte. Der Ausdruck in den Augen des Mannes, die Art, wie er den Namen wiederholt hatte, um sich einen Augenblick Zeit zum Nachdenken zu verschaffen, bevor er eine verneinende Antwort gab, hatten ihn verraten. Doch es war sinnlos, die Frage zu wiederholen. Tregarron hatte bereits eine Position bezogen, von der er auf keinen Fall würde abrücken können, ohne zuzugeben, dass er unaufrichtig gewesen war. Was mochte der Grund dafür gewesen sein? Wäre die Antwort anders ausgefallen, wenn Narraway ihm die Frage in Lady Tregarrons Abwesenheit gestellt hätte?
Steckte hinter dem Leugnen der Wunsch, in eine bestimmte Angelegenheit nicht mit hineingezogen zu werden? Was auch immer Serafina wissen mochte, bezog sich sicherlich zu sehr auf die Vergangenheit, als dass es jetzt noch jemandem hätte schaden können, und nie und nimmer konnte es sich auf Entscheidungen der gegenwärtigen Regierung Englands auswirken. Ging es um den Ruf eines Menschen? Eines Freundes? Um jemanden, dessen Namen es nach wie vor schaden würde, wenn man ihn mit jener Frau oder etwas, was sie wusste, in Verbindung brachte?
Oder ging es einfach darum, dass Narraway nicht mehr an der Spitze des Staatschutzes stand, ja, nicht einmal mehr das Geringste mit ihm zu tun hatte, und Tregarron ihm nicht traute, ohne ihm das ins Gesicht sagen zu wollen? Dieser Gedanke schmerzte ihn besonders, so lächerlich das auch war. Immerhin lag die vermaledeite Geschichte mit Irland mittlerweile Monate zurück. Er hätte längst darüber hinwegkommen und eine andere anspruchsvolle Aufgabe finden müssen. Schließlich hatte er noch Jahre des aktiven Lebens vor sich, die danach verlangten, mit zweckgerichtetem Tun ausgefüllt zu werden.
Er zwang sich, seine Stimme locker und neutral klingen zu lassen. »Vermutlich spielt es auch keine Rolle«, sagte er leichthin. »Ein Bekannter hatte mich darauf angesprochen. Wie es aussieht, ist die Dame inzwischen ziemlich gebrechlich. Es ging wohl darum, die Leute, die ihr einst nahestanden und vielleicht noch einmal mit ihr in Verbindung treten wollten, zu informieren, bevor es zu spät ist.«
Tregarron rührte sich nicht, als sei sein Körper in dem mächtigen, bequemen Sessel erstarrt.
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