Mord in Dorchester Terrace: Ein Thomas-Pitt-Roman (German Edition)
zu hängen gedachte. Ohrringe genügten. Zwar hatte sie von Natur aus eine gesunde Gesichtsfarbe, doch legte sie ganz unauffällig ein wenig Rouge auf und puderte sich die Nase, damit sie nicht glänzte. Wenn sie sicher sein durfte, dass all diese banalen Dinge so waren, wie sie sein mussten, würde es ihr leichterfallen, sich auf die Menschen zu konzentrieren, mit denen sie sprach, aufmerksam zuzuhören sowie freundliche und nach Möglichkeit auch ein wenig geistreiche Antworten zu geben.
Sie hatten für den Abend eine Kutsche gemietet, und Charlotte lehnte sich auf ihrem Sitz zurück und lächelte im Dunkeln vor sich hin, während sie über den Russell Square fuhren, dessen kahle Bäume von kräftigen Böen geschüttelt wurden. Nach links ging es weiter über Woburn Place, vorbei am Tavistock Square, einem weiteren offenen und vom Wind gepeitschten Platz, auf den Upper Woburn Place folgte, bis sie schließlich das flackernde Licht der Laternen in Endsleigh Gardens vor sich sahen.
Der Kutscher hielt an, und sie stiegen vor Blantyres Haus aus, wo sie ein livrierter Lakai empfing und in den großen Salon führte. Dort fiel ein gelblich rötlicher Lichtschein aus dem Kamin auf die Ledersessel und Sofas sowie auf einen Teppich in satten Bernstein-, Gold- und Pfirsichtönen. Die Flammen der Gaslampen waren niedrig gedreht, sodass sich auf den vielen Bildern an den Wänden nur mit Mühe Einzelheiten erkennen ließen. Der erste flüchtige Blick zeigte Charlotte lediglich die stark verzierten goldenen Rahmen.
Adriana Blantyre kam einen Schritt vor ihrem Gatten auf die Gäste zu, um sie zu begrüßen. Der intensive Farbton ihres burgunderroten Samtkleides bildete einen gewissen Kontrast zu ihrem bleichen Gesicht und ihren tiefliegenden Augen. Es fiel Charlotte auf, dass sie bei aller Zerbrechlichkeit höchst lebendig wirkte.
Blantyre begrüßte Charlotte mit einem Lächeln, doch bevor er ihr die Hand bot, warf er einen raschen Blick zu seiner Gattin hinüber.
»Ich freue mich sehr, dass Sie kommen konnten. Wie geht es Ihnen, Mrs. Pitt?«
»Sehr gut, vielen Dank, Mr. Blantyre«, gab sie zurück. An seine Gattin gewandt, sagte sie: »Guten Abend, Mrs. Blantyre. Es ist mir ein großes Vergnügen, Sie wiederzusehen.« Sie meinte das aufrichtig und sagte es keineswegs nur, weil sie das als höhere Tochter so gelernt hatte. Bei den beiden Gelegenheiten, da sie Adriana kurz gesehen hatte, war sie ihr anders als die meisten der ihr bekannten Damen der Gesellschaft erschienen. Das lag nicht nur daran, dass sie im Unterschied zu jenen mit Angelegenheiten von internationaler Bedeutung zu tun hatte, sie wirkte auch lebhaft und besaß einen trockenen Humor, der sich mehr in dem äußerte, was sie nicht sagte, als in irgendwelchen schlagfertigen Antworten. Charlotte hatte mehrere Male zu ihr hingesehen, nachdem jemand eine sonderbare Bemerkung gemacht hatte, und das Aufblitzen in ihren Augen erkannt.
Sie setzten sich und plauderten über das Wetter, den jüngsten Gesellschaftsklatsch sowie über Gerüchte und andere Belanglosigkeiten. Das gab Charlotte Gelegenheit, sich in Ruhe die Bilder an den Wänden, überwiegend Landschaften und Seestücke, sowie die herrlichen Dekorationsgegenstände auf dem Kaminsims und den drei Beistelltischchen anzusehen. Dabei fesselten sie insbesondere zwei, vermutlich wegen ihrer Gegensätzlichkeit, nämlich ein gewaltiger Wildeber aus Metallguss und eine kleine Tänzerin aus Porzellan. Von ihr ging eine solche Anmut aus, dass Charlotte den Eindruck gewann, sie werde jeden Augenblick anfangen, sich zu bewegen. Der Eber wirkte bedrohlich, wie er mit gesenktem Kopf dastand, war aber zugleich von bewundernswerter Schönheit.
»Ein schönes Stück, nicht wahr?«, bemerkte Blantyre, als er ihrem Blick folgte. »Hier im Lande findet man diese Tiere nicht mehr, wohl aber in Österreich.«
»Wann hat es die denn bei uns gegeben?«, erkundigte sich Charlotte, weniger, weil ihr daran lang, das zu erfahren, als weil sie ihn ins Gespräch ziehen wollte.
Er sah sie aufmerksam an. »Eine hochinteressante Frage, der ich unbedingt gelegentlich nachgehen muss. Ist es ein Zeichen von Fortschritt oder von Niedergang, dass hier keine Wildschweine mehr leben? Oder keines von beiden? Diese Frage könnten wir uns bei so manchem stellen.« Er lächelte, als belustige ihn der Gedanke.
»Haben Sie auch welche gejagt?«, erkundigte sich Charlotte.
»Ja, aber das ist lange her. Ich habe mehrere Jahre in Wien gelebt, und in
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