Mord in Dorchester Terrace: Ein Thomas-Pitt-Roman (German Edition)
nicht wussten – es ist nur den wenigsten bekannt. Er hat die Ansicht vertreten, eine Invasion Kroatiens werde Russland einen Vorwand für kriegerische Aktionen liefern, womit sich die Donaumonarchie vom Schwarzen Meer bis hin zur Adria einer vollständig gegen Österreich eingestellten Balkanhalbinsel gegenübersehen würde. Er pflegte zu sagen, dass dabei nicht nur die Gegenwart auf dem Spiel stehe, sondern auch die Zukunft, für die Österreich kommenden Generationen gegenüber die Verantwortung trage.«
Pitt sah ihn verblüfft an. Am Tisch herrschte vollständiges Schweigen.
»Übrigens ist das nahezu ein wörtliches Zitat«, ergänzte Blantyre, »soweit ich den deutschen Wortlaut ins Englische übertragen kann.«
»Der arme Mann ist tot, Evan«, unterbrach ihn Adriana, obwohl es den Anschein hatte, als wolle er ohnehin nichts mehr über das Thema sagen. »Wir werden nie erfahren, was er an Gutem bewirkt hätte, wenn er am Leben geblieben wäre«, fügte sie mit gesenktem Blick hinzu. In ihrer Stimme lag tiefe Trauer.
Charlottes Gedanken jagten sich. Sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, welche Beziehung zwischen dem britischen Staatsschutz und dem Selbstmord eines Mannes und seiner Geliebten bestehen sollte, wie tragisch auch immer die Angelegenheit gewesen sein mochte. Doch es hatte ganz den Anschein, als habe Blantyre das für ein Tischgespräch zwischen Menschen, die einander kaum kannten, denkbar unpassende Thema durchaus mit Absicht zur Sprache gebracht.
Jetzt blickte er zu seiner Frau. »Du darfst dich nicht so sehr um ihn grämen, Liebste.« Er streckte eine seiner sehnigen, kräftigen Hände nach ihr aus, aber der Tisch war zu lang, als dass er sie hätte erreichen können. So ließ er die Finger in dieser liebevollen Geste auf dem weißen Tischtuch liegen. »Es war seine eigene Entscheidung. Was wissen wir schon – vielleicht ist ihm gar nichts anderes übrig geblieben. Er war krank, erschöpft und todunglücklich.«
»Krank?«, fragte sie rasch und sah ihn zum ersten Mal an, seit der Tod des Kronprinzen erwähnt worden war.
»Deshalb wird es auch keinen Erben geben«, sagte er sehr sanft.
»Er hat doch eine Tochter!«, hielt sie dagegen.
»Aber keine Söhne.«
Die Mischung aus Überraschung und Mitleid auf Adrianas Gesicht ließ sich nicht recht deuten. Darin lag etwas, was Charlotte für eine Art Hoffnung hielt, als sei ein quälendes altes Problem endlich gelöst.
»Heißt das, der Übergang der Thronfolge an Erzherzog Franz Ferdinand ist endgültig?«, fragte sie nach kurzem Zögern.
»Ja«, bestätigte er. »Aber hinter dem Selbstmord des armen Rudolf steckte weder die Frage der Thronfolge noch irgendein anderes politisches Motiv, zumindest nicht im engeren Sinne. Für den Fall, dass er auf den Thron gekommen wäre, hatte Rudolf geplant, das Reich in eine Republik umzuwandeln und als deren Präsident an ihre Spitze zu treten. Außerdem wollte er den einzelnen Nationen, aus denen es besteht, deutlich größere Freiheiten gewähren.«
»Hätte das denn funktioniert?«, fragte sie zweifelnd.
Er lächelte. »Wahrscheinlich nicht. Er war ein Idealist, ein richtiger Träumer. Aber er hätte damit etwas bewirken können.«
Pitt ließ den Blick zwischen den beiden hin und her wandern. »Besteht irgendein Zweifel daran, dass es sich um Selbstmord gehandelt hat?«
Blantyre schüttelte den Kopf. »Nicht der geringste. Mir ist bekannt, dass allerlei Verschwörungstheorien im Umlauf sind, aber die Wahrheit liegt tiefer, und sie ist mächtiger, als die Öffentlichkeit weiß. Allerdings bin ich der Ansicht, dass man den von solchen Tragödien betroffenen Menschen ihren Kummer lassen und die Sache nicht in der Öffentlichkeit breittreten soll. Das ist der einzige Trost, den wir ihnen anbieten können. Ich bin ganz sicher, dass Rudolf und Marie Vetsera von eigener Hand umgekommen sind und zumindest ganz zum Schluss niemand sonst in die Sache verwickelt war. Es steht uns nicht zu, darüber zu befinden, wer die Schuld daran trägt, dass das Leben der beiden so und nicht anders verlaufen ist.«
Pitt schien etwas sagen zu wollen, überlegte es sich aber anders und machte stattdessen eine Bemerkung über die vielen herrlichen Gemälde an den Wänden.
Sogleich strahlte Adrianas Gesicht vor Freude. »Sie zeigen die Küste Kroatiens«, sagte sie eifrig. »Es ist meine Heimat, dort bin ich zur Welt gekommen.« Sie begann das Land mit unüberhörbarem Heimweh zu beschreiben.
Charlotte fiel
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