Mord in Dorchester Terrace: Ein Thomas-Pitt-Roman (German Edition)
Charlotte sie zum gemeinsamen Besuch einer Ausstellung eingeladen, und Adriana hatte sogleich angenommen.
Sie trafen sich um zwei Uhr auf den Stufen vor der Galerie und gingen gemeinsam hinein. Lachend hielten sie ihre Hüte fest, da ein so starker Wind daran zerrte, dass er sogar ihre schweren Wollröcke, deren Ränder vom Regen nass waren, zu lüften drohte.
Das warme Dunkelrot von Adrianas erstklassig geschnittenem elegantem Kostüm, das ein wenig an ein Reitkleid erinnerte, verlieh ihrem blassen Teint einen leicht rötlichen Schimmer. Ihre hohe, leicht nach vorn in die Stirn geneigte Kopfbedeckung mit ihrer schmalen Krempe erinnerte Charlotte an einen Tirolerhut. Ihr fiel auf, dass mindestens ein Dutzend Frauen herübersahen, teils missbilligend, teils neidisch. Verglichen mit Adriana wirkten sie langweilig, und das mochte ihnen bewusst sein.
Auch Adriana entging nicht, dass sie angestarrt wurde, und sie schien leicht verlegen zu sein.
»Ist er zu auffällig?«, fragte sie kaum hörbar.
»Überhaupt nicht«, gab Charlotte belustigt zurück. »Sie dürfen überzeugt sein, dass mindestens drei von denen gleich morgen früh zu ihrer Putzmacherin gehen und etwas Ähnliches haben wollen. Bei manchen wird er großartig aussehen und bei anderen lächerlich. Bei nichts ist es so schwer, alles richtig zu machen, wie bei Hüten, finden Sie nicht auch?«
Adriana zögerte kurz, um sich zu vergewissern, dass Charlotte nicht ihre Scherze mit ihr trieb, und lächelte dann. »Ja. Andererseits ist es eigentlich ein Jammer, überhaupt einen Hut zu tragen, wenn jemand so herrliches Haar hat wie Sie. Aber ich nehme an, dass Ihnen nichts anderes übrig bleibt, zumindest auf der Straße – und natürlich auch in der Kirche.« Mit leisem Lachen fuhr sie fort: »Ich frage mich, ob sich Gott je Gedanken darüber gemacht hat, wie viele Stunden wir vor dem Spiegel statt auf den Knien verbringen, während wir uns den Kopf darüber zerbrechen, was wir Ihm zu Ehren darauf tragen sollen.«
»Besser gesagt, womit wir in der Kirche gesehen werden wollen«, erwiderte Charlotte. »Aber falls er ein Mann ist, wie es allgemein heißt, hat er bestimmt keinen Gedanken daran verschwendet.« Sie lächelte und schritt an Adrianas Seite durch die große Eingangshalle in den ersten Ausstellungssaal. »Wenn er aber eine Frau hätte oder gar selbst eine wäre, wüsste er das bestimmt«, fuhr sie leise fort, damit niemand ihre ketzerischen Äußerungen hören konnte. »Vermutlich hat er sich ja unsere Haare ausgedacht, und da müsste er zumindest eine ungefähre Vorstellung davon haben, wie lange es dauert, die hochzustecken.«
»Auf allen Abbildungen Evas, die ich gesehen habe«, rief Adriana aus, »sind sie so lang, dass sie ohne Weiteres darauf sitzen und ihre … na ja, Sie wissen schon, damit bedecken könnte. Ich kann mir nicht vorstellen, dass meine Haare je so lang werden könnten.«
»Natürlich haben zahlreiche Männer nur wenig Haare, vor allem in späteren Jahren«, gab Charlotte zurück. »Offenbar hat der Mensch schon seit einer ganzen Weile die Möglichkeit, seine Blöße anders zu bedecken. Ich finde, man sollte uns die Freiheit lassen, so weite Röcke und so breite Hüte zu tragen, wie wir Lust haben.«
Adriana warf Charlotte einen dankbaren Blick zu, als hätte diese sie mit ihren leicht frivolen Worten gerettet.
Langsam gingen sie von Bild zu Bild und betrachteten aufmerksam eins nach dem anderen.
»Sehen Sie nur!«, sagte Adriana plötzlich ganz aufgeregt und wies auf ein Bild, das rechts von Charlotte an der Wand hing. »Die Brücke da sieht genau so aus wie eine in der Nähe meines Geburtsortes.« Wie gebannt stand sie vor der mit zarten Farben gemalten kleinformatigen Idylle: ein Bächlein, das über Kiesel lief und unter einer steinernen Brücke verschwand, hinter der sich das Licht im Wasser brach. Die nahe der Brücke weidenden Kühe waren so hervorragend getroffen, dass man glauben konnte, sie würden im nächsten Augenblick anfangen, sich zu bewegen.
Charlotte sah Adriana an, die, ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, nicht zu wissen schien, ob sie lachen oder weinen sollte. Vielleicht drängten sich in ihrem Kopf die Erinnerungen so dicht, dass sie sie nicht voneinander trennen konnte.
»Es ist einfach herrlich«, sagte sie aufrichtig. »Sicher finden Sie hier alles sehr viel anders als bei Ihnen zu Hause. Manchmal wünschte ich, ich wäre auf dem Lande aufgewachsen, doch vermutlich würde mir das dann hier in
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