Mord in Dorchester Terrace: Ein Thomas-Pitt-Roman (German Edition)
Blantyre.«
»Doch, es gibt etwas Neues«, hielt Pitt dagegen. »Er selbst hat mich darauf aufmerksam gemacht, und wenn ich es mir recht überlege, hätte auch mir das klar sein müssen. Wir haben es jetzt mit einem geeinten Deutschen Reich zu tun, unter Führung des erstarkten und sich mit Macht ausbreitenden Preußen. Angenommen, das letztlich zur slawischen Welt gehörende Kroatien fiele einem Angriff des deutschsprachigen Österreich zum Opfer. In dem Fall würde das slawische Russland dem kleinen Bruderland selbstverständlich zu Hilfe eilen. Eine solche Intervention wiederum würde das Deutsche Reich zur Unterstützung Wiens auf den Plan rufen, und wir hätten es mit einem Krieg von europäischen Dimensionen zu tun, von dem niemand wüsste, wie sich ihm Einhalt gebieten ließe.«
»Grundgütiger!«, entfuhr es Narraway, als ihm die Ungeheuerlichkeit des Ganzen aufging. »Angesichts dieser Konstellation wird Ihnen nichts anderes übrig bleiben, als diesen Alois notfalls mit Ihrem eigenen Leben zu schützen. Ziehen Sie Blantyre und jeden anderen heran, der Ihnen von Nutzen sein kann. Ich habe nichts zu tun, jedenfalls nichts Wichtiges, und werde Sie unterstützen, so weit es in meinen Kräften steht. Als Erstes werde ich festzustellen versuchen, was mit der armen Serafina Montserrat geschehen ist. Immerhin darf man die Möglichkeit nicht ausschließen, dass auch ihr dieser Stand der Dinge bekannt war.« Sein Atem ging schneller, sein Gesicht war aschfahl und sein Körper angespannt wie eine Stahlfeder. Während er sich vorbeugte, sah Pitt, dass an seiner Schläfe ein winziger Muskel zuckte und er die schmalen Hände fest ineinander verschränkt hatte. »Wir müssen unbedingt verhindern, dass es dahin kommt.«
»Ich weiß«, stimmte ihm Pitt zu.
»Also, überlassen Sie es mir, mich um die Hintergründe von Mrs. Montserrats Tod zu kümmern. Möglicherweise sind die wichtig – aber selbst wenn das alles nichts mit Politik zu tun hätte und sich herausstellen sollte, dass es sich letzten Endes um eine schreckliche häusliche Tragödie handelt, hat sie es verdient, dass man die Sache nicht auf sich beruhen lässt.«
Pitt sah ihn eine Weile an.
»Ich versichere Ihnen, dass ich auch früher schon das eine oder andere Verbrechen aufgeklärt habe«, sagte Narraway, wobei in seinen Augen für einen kurzen Augenblick Spottlust aufflackerte. »Dass ich in Ihre Fußstapfen trete, ist für mich keine größere Herausforderung als für Sie, in meine zu treten.«
Pitt holte Luft, um sich zu entschuldigen, überlegte es sich dann anders und lächelte lediglich.
»Sie haben recht. Sie hat es verdient.«
Dass Pitt seiner Frau nichts über seinen gegenwärtigen Fall sagen durfte, hinderte diese nicht daran, ihren Verstand und ihr beträchtliches logisches Denkvermögen zu nutzen, um festzustellen, womit sie sich ihm nützlich machen konnte. Adriana Blantyre war ihr von Anfang an sympathisch gewesen, und ganz offensichtlich war ihr Gatte für Pitt ein wichtiger Kontakt. Bei der Abendeinladung im Haus der Blantyres hatten die beiden Männer den Rest des Abends bei geschlossener Tür im Esszimmer verbracht und den Butler angewiesen, sie auf keinen Fall zu stören. Als sie schließlich herausgekommen waren, schien zwischen ihnen ein ganz besonderes Einvernehmen zu herrschen, und die Art und Weise, wie sich Pitt bedankt hatte, ging weit über den Rahmen dessen hinaus, was für einen Abend in angenehmer Gesellschaft nötig gewesen wäre.
Auf dem Heimweg hatte er zwar nichts gesagt, doch war Charlotte nicht entgangen, dass sich seine ursprüngliche Anspannung weitgehend gelöst hatte. Außerdem hatte er in jener Nacht deutlich besser geschlafen als die ganze Woche davor.
Angesichts dieses Standes der Dinge hielt Charlotte es für angebracht, die Bekanntschaft mit Adriana Blantyre zu vertiefen. Das fiel ihr in keiner Weise schwer, denn sie erschien ihr außerordentlich interessant. Da sie erst in Kroatien und danach in Norditalien aufgewachsen war, sah sie viele Dinge in anderem Licht als Charlotte, vor allem, was kulturelle oder politische Fragen anging. Ganz davon abgesehen war sie trotz der Besorgnis, die ständig auf ihrem Gesicht zu liegen schien, und trotz Charlottes Annahme, sie habe Geheimnisse, die sie niemandem mitteilte, ausgesprochen angenehm im Umgang. Diese Geheimnisse mochten mit Erfahrungen und Erlebnissen zu tun haben, die sich eine Engländerin nicht einmal vorstellen konnte.
Für diesen Nachmittag hatte
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