Mord in Dorchester Terrace: Ein Thomas-Pitt-Roman (German Edition)
verbunden war, aber es war besser, so zu tun, als sei ihr das nicht bewusst.
»Da haben Sie recht.« Mit einem Mal lächelte Adriana sie voll Wärme an, als habe sie alles verstanden, was nicht gesagt worden war. Dann wechselte sie unvermittelt das Thema. Man hätte glauben können, die Erinnerungen an ihre Heimat seien zu schmerzlich, als dass sie sie länger zu ertragen vermochte. »Wien ist wunderbar«, sagte sie schwärmerisch. »Niemand hat je wirklich getanzt, der kein Wiener Orchester unter der Leitung von Johann Strauss gehört hat. Und die Kleider! Jede Frau sollte wenigstens einmal im Leben ein solches Kleid haben und darin Walzer tanzen. Kommen Sie!«
Charlotte folgte der Aufforderung und ging neben ihr her.
Während Charlotte am nächsten Tag im Wohnzimmer überlegte, ob sie neue Vorhänge – möglicherweise in einer anderen Farbe – kaufen sollte, hörte sie, wie Daniel unter Wutgebrüll die Treppe herunterkam. Offenbar strebte er der Küche entgegen, denn sie hörte seine lauten Schritte auf dem Linoleum im Gang.
Im nächsten Augenblick folgte ihm Jemima.
»Ich hatte ja gleich gesagt, dass du sie kaputt machen würdest«, schrie sie ihn an. »Sieh nur, was du getan hast!«
»Du hättest sie ja nicht da stehen lassen müssen, dumme Kuh!«, schrie Daniel zurück.
»Woher sollte ich wissen, dass du so ungeschickt herumfuhrwerken würdest?« Auch Jemima war jetzt unten angekommen.
Charlotte trat aus dem Wohnzimmer: »Jemima!«
Das Mädchen blieb im Gang stehen und wandte sich ihr zu. Ihr Gesicht war rot vor Wut. »Er hat sie kaputt gemacht!«, sagte sie und hielt ihr anklagend die Bruchstücke einer zierlichen Porzellandose entgegen. Tränen der Wut und der Enttäuschung liefen ihr über die Wangen.
Charlotte sah hin und erkannte auf den ersten Blick, dass der Versuch, diese Dose zu kitten, aussichtslos sein würde. Sie sah Jemima in die Augen, die den ihren so ähnlich waren.
»Das tut mir leid. Ich glaube nicht, dass sich da noch etwas machen lässt. Ich nehme aber nicht an, dass er es mit Absicht getan hat.«
»Er hat nicht aufgepasst!«, gab Jemima zurück. »Ich hab ihm extra gesagt, er soll vorsichtig sein.«
Charlotte sah sie an und überlegte, mit wie viel Takt das geschehen sein mochte. »Ja«, sagte sie ruhig. »Gib die Scherben besser in den Abfalleimer und setz den Deckel drauf, damit du sie dir nicht dauernd ansehen musst. Ich spreche mit ihm.«
Jemima rührte sich nicht.
»Geh schon«, mahnte Charlotte. »Willst du, dass es noch schlimmer wird? Wenn ich in deiner Gegenwart mit ihm darüber rede, wird es das bestimmt, das kann ich dir jetzt schon sagen.«
Zögernd wandte sich Jemima um und stieg widerwillig die Treppe empor.
Charlotte sah ihr nach, bis sie in ihrem Zimmer verschwun den war, und ging dann in die Küche, wo Minnie Maude am Spülstein Kartoffeln schälte. Daniel saß mit finsterer Miene auf einem Stuhl und baumelte mit den Beinen. Als seine Mutter hereinkam, funkelte er sie an, bereit, sich gegen Jemima zu verteidigen, von der er wohl annahm, dass sie ihr auf den Fersen folgte.
»Hast du die Dose zerbrochen?«, fragte Charlotte.
»Es war ihre eigene Schuld«, gab er zurück. »Sie hat sie ganz blöd hingestellt!«
»Hast du das mit Absicht getan?«
»Natürlich nicht!«
»Bist du ganz sicher, Daniel?«
»Ja! Ich hab sie nicht gesehen!«
»Das hatte ich mir gedacht. Und was wirst du jetzt tun?«
Er sah sie brummig an. »Ich kann sie ja nicht gut wieder heil machen«, begehrte er auf.
»Nein, das kann wohl niemand«, gab sie ihm recht. »Ich denke, du wirst ihr eine neue besorgen müssen.«
Er riss die Augen weit auf. »Das kann ich nicht! Woher soll ich die kriegen?«
»Genau so eine wirst du nicht bekommen, aber wenn du dein Taschengeld sparst, findest du vielleicht eine, die beinahe genauso schön ist.«
»Sie hätte sie nicht da hinstellen sollen!« Er holte tief Luft. »Da muss ich ja wochen- oder monatelang sparen.«
»Und wenn sie sich daran beteiligt?«, schlug Charlotte vor. »Jeder die Hälfte – Jemima, weil sie die Dose ungeschickt hingestellt hat, und du, weil du nicht aufgepasst hast und sie jetzt entzwei ist?«
Zögernd stimmte er zu und versuchte festzustellen, ob sie damit zufrieden war.
»Gut.« Sie lächelte ihm zu. »Und jetzt lass dir von Minnie Maude ein Stück Kuchen geben. Danach gehst du nach oben, sagst deiner Schwester, dass es dir leidtut, und bietest ihr an, dass ihr eine neue Dose zu finden versucht und jeder von
Weitere Kostenlose Bücher