Mord in Dorchester Terrace: Ein Thomas-Pitt-Roman (German Edition)
der Stadt so sehr fehlen, dass ich mich nie an gepflasterte Straßen und dermaßen dicht beieinanderstehende Häuser gewöhnen könnte, von dem Lärm ganz zu schweigen und von dem Rauch, der im Winter aus all den Kaminen steigt.«
»Ach, wissen Sie, auf dem Lande gibt es Schlamm«, versicherte ihr Adriana, »und im Winter ist es dort bitterkalt, ganz davon abgesehen, dass es dann unglaublich langweilig sein kann. Das dürfen Sie mir glauben. Und überall die Dunkelheit! Ihnen würden Gesellschaften fehlen, das Theater und der Klatsch über Berühmtheiten. Es gäbe nur Ihre engsten Nachbarn, die fortwährend über dasselbe reden: Frau X über ihre Enkel, Frau Y über ihre Gicht und Fräulein Z über ihre Tante und ihre miserable Köchin.«
Charlotte sah sie aufmerksam an, um zu erkennen, ob sie das ernst meinte oder sich lustig machte, kam aber so recht zu keinem Ergebnis. Sie fand das erfrischend, denn berechenbare Menschen waren in ihren Augen reizlos.
»Vielleicht sollte man eine Stadtwohnung für den Winter haben, damit man ins Theater, in die Oper und zu Gesellschaften gehen kann«, sagte sie ihrerseits nur halb im Ernst, »und für den Sommer ein Haus auf dem Lande. Da könnte man ausreiten und Spaziergänge machen, im Garten essen und … vieles andere.«
»Aber Sie sind Engländerin«, sagte Adriana jetzt beinahe lachend. »Da machen Sie es doch umgekehrt: Im Sommer leben Sie in der Stadt, und im Winter gehen Sie aufs Land, um hinter einer Hundemeute über die Felder zu galoppieren und sich dabei großartig zu amüsieren.«
Charlotte stimmte in ihr Gelächter ein, und sie gingen zum nächsten Bild weiter. Flüchtig sah Charlotte, dass Adriana noch einmal einen Blick auf das Bild mit der in der Sonne schimmernden Brücke und den weidenden Kühen warf. Sie fragte sich, wie sehr sie ihre Heimat und die Menschen dort vermissen mochte. Sie musste Blantyre wohl sehr geliebt haben, um all das aufzugeben und nach England zu ziehen, wo vieles so anders war.
»Kennen Sie auch andere Orte?«, fragte sie. »Ich selbst war noch nie in Italien, habe aber auf Bildern gesehen, dass es dort sehr schön sein muss.«
»O ja, das ist es«, stimmte Adriana zu. »Überall gibt es etwas Besonderes. Mir geht es aber weniger um die Orte als um die Menschen, die dort leben.« Sie wandte sich Charlotte zu. »Empfinden Sie das nicht ebenso?« In ihren Augen, die beinahe herausfordernd wirkten, lag der Ausdruck völliger Aufrichtigkeit.
»Doch. Vermutlich bin ich deshalb so gern in London, weil ich hier das Beste erlebt habe, was mir im Leben widerfahren ist«, antwortete Charlotte. »Natürlich geht es ausschließlich um die Menschen, das kann auch gar nicht anders sein – um die, die man liebt. Wirkliche Schönheit ist begeisternd, und man vergisst sie nie ganz, aber man braucht jemanden, mit dem man sie gemeinsam genießen kann.«
Adriana zwinkerte und sah beiseite. »Ich glaube nicht, dass ich wirklich nach Kroatien zurückkehren möchte. Das Leben dort wäre nie wieder wie früher. Alle meine Angehörigen sind tot. Meine Mutter ist jung gestorben … und mein Vater …« Sie verstummte mit einem Mal, als bedaure sie, das Thema angesprochen zu haben, straffte sich und trat zu einem anderen Bild. Es zeigte ein etwa sechzehnjähriges Mädchen, das ein blasses Baumwollkleid trug und im Schatten eines Baumes im Gras saß. Die Lichtreflexe ließen sie außergewöhnlich zerbrechlich erscheinen, als sei sie nicht ganz von dieser Welt. Sie hatte dunkles Haar wie Adriana. Die Ähnlichkeit war geradezu verblüffend.
Adriana sah das Bild lange an und sagte schließlich: »Das war eine andere Welt, nicht wahr?«
»Ja«, stimmte ihr Charlotte zu. Sie musste daran denken, wie sie in ihrer Jugend jeden Sommer mit Emily und Sarah, die schon lange nicht mehr lebte, im Garten in der Cater Street verbracht hatte.
Adriana trat ein wenig näher an sie heran. Es wirkte fast so, als wolle sie mit ihr ein Bündnis schließen. »Sie sieht so zart aus«, sagte sie, den Blick auf das Bild gerichtet. »Aber wahrscheinlich ist sie das gar nicht. Ich habe als Kind viel gekränkelt, bin aber inzwischen seit Jahren kerngesund. Evan glaubt das nicht immer und behandelt mich, als müsse man mich in Watte packen. Er gibt mir zusätzliche Decken, möchte, dass ich einen Schal umlege und Handschuhe anziehe, warnt mich vor Pfützen, weil er meint, wenn ich nasse Füße bekomme, würde ich mich erkälten.« Ihr Mund verzog sich zu einem sonderbar trüben
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