Mord in Dorchester Terrace: Ein Thomas-Pitt-Roman (German Edition)
angedeuteten Lächeln. »Dabei bekomme ich so gut wie nie eine Erkältung. Das liegt sicher an Ihrem kräftigenden Klima hier. Ich bin genauso zäh wie eine Engländerin geworden.«
Diesmal lachte Charlotte. »Wir erkälten uns durchaus«, gab sie zu. »Manche Leute scheinen fortwährend zu husten und zu schniefen. Aber ich freue mich aufrichtig zu hören, dass Sie die Phase der Kränklichkeit überwunden haben. Wichtig ist einzig und allein, dass Sie jetzt kräftig sind.«
Adriana wandte sich rasch beiseite, und Charlotte sah, dass ihr Tränen über die Wangen liefen.
»Entschuldigung«, sagte Charlotte sogleich und fragte sich, womit sie das ausgelöst haben mochte. Hatte Adriana einen Angehörigen durch eine Krankheit verloren, vielleicht sogar ein Kind? Der Gedanke ließ sie erschauern und erfüllte sie mit einem Schmerz, der sie alles andere vergessen ließ. Was konnte sie nur sagen, um das wiedergutzumachen?
Adriana schüttelte den Kopf. »Schon gut. Man kann nicht in die Vergangenheit zurückkehren. Verluste gibt es immer und überall. Ich glaube, von allen Menschen auf der Welt, die mir nahegestanden haben, war mir keiner je so wichtig wie mein Vater. Ich wünschte nur, er könnte wissen, dass ich hier lebe, gesund bin und es mir gut geht und dass ich …« Sie machte eine ungeduldige Handbewegung. »Verzeihen Sie, ich sollte solche Erinnerungen gar nicht erst zulassen. Jeder von uns verliert Angehörige.« Sie sah wieder zu Charlotte. »Sie sind sehr geduldig und freundlich.«
»Ich hatte zwei Schwestern, von denen eine nicht mehr am Leben ist«, sagte Charlotte leise. »Manchmal denke ich an sie und frage mich, wie es wohl wäre, wenn sie noch lebte, und ob wir dann besser miteinander auskämen als damals.« Sie kehrte in Gedanken in die schreckliche Zeit zurück, als alle ihre Angehörigen und die gesamte Nachbarschaft einander angstvoll angesehen hatten. Von einem Augenblick auf den anderen war ihnen aufgegangen, wie wenig sie von dem wussten, was die Menschen in ihrer nächsten Umgebung glaubten, liebten oder wovon sie träumten.
Sie hängte sich bei Adriana ein. »Kommen Sie, wir wollen eine Tasse heißen Tee trinken und dazu vielleicht ein Stück Kuchen oder Hefegebäck essen. Neulich abends haben Sie erwähnt, wo Sie Ihren Mann kennengelernt haben. Das klang sehr viel romantischer als London. Meinen Mann, er war damals Polizeibeamter, habe ich kennengelernt, als er in der Nähe von dort, wo ich lebte, ein entsetzliches Verbrechen aufzuklären hatte und jeder von uns verdächtig war. Man nahm an, dass wir zumindest etwas gesehen hatten und die Unwahrheit sagten, um Menschen zu schützen, die uns nahestanden. Es war alles ganz und gar grauenhaft. Sicher haben Sie eine bessere Geschichte zu erzählen.«
Adriana musterte sie aufmerksam und sah sie dann verständnisvoll an. »Unbedingt«, erwiderte sie. »Tee und Hefegebäck. Dabei erzähle ich Ihnen etwas über die wirklich herrlichen Orte, an denen ich gewesen bin. Die blaugrünen Seen, die in den Bergen Kroatiens wie ein Halsband liegen, das eine riesige Himmelsgöttin nachlässig hat fallen lassen. Niemand kann sich solche Farben vorstellen! Ich wollte, ich wäre fähig, Ihnen die Wälder Illyriens wirklichkeitsgetreu zu beschreiben«, fuhr sie fort. »Sie sind voller Laubbäume, und wenn im Frühling das junge Grün sprießt, sehen sie aus, als sei die ganze Welt neu erschaffen worden.«
Charlotte versuchte es sich vorzustellen. Vielleicht war es so etwas wie ein Buchenwald in England, aber sie wollte das nicht in Worte fassen und auch keinen Vergleich wagen.
»Außerdem haben wir die Dinarischen Alpen«, sagte Adriana, »wo Dutzende Höhlen zweihundert bis zweihundertfünfzig Meter in die Tiefe reichen.«
»Tatsächlich?« Charlotte war verblüfft, vor allem aber angerührt von der Stärke der Empfindung in Adrianas Stimme, der Leidenschaft in ihren Worten. »Waren Sie auch in einigen davon?«
Adriana überlief sichtlich ein Schauer. »Nur in einer. Mein Vater hat mich mitgenommen und an der Hand gehalten. Nichts auf der Welt ist finsterer als eine Höhle. Verglichen damit ist der Nachthimmel voller Licht, selbst dann, wenn ihn Wolken bedecken. Aber Sie sollten Istrien und die Inseln vor der Küste Kroatiens sehen! Es sind unzählige, eine hinter der anderen. Auf denen, die am weitesten im Süden liegen, ist das Klima beinahe tropisch.«
»All diese Schönheit muss Ihnen schrecklich fehlen.« Es war Charlotte klar, dass auch Schmerz damit
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