Mord in h-moll
Staatsanwalt. Aber waren wir denn auf einer Theaterbühne? Kam es darauf an, von welchem Schauspieler das Publikum mehr hingerissen wurde? Ging es nicht um ganz nüchterne Tatsachen?
Schon seine ersten Sätze waren ein offener Angriff gegen den Staatsanwalt.
»Hohes Gericht, meine Herren Geschworenen! Bis jetzt ist der Herr Staatsanwalt davon überzeugt, daß der Angeklagte mit voller Absicht dem toten Carl Weynert nach Davos nachgefahren ist. Aber der Herr Staatsanwalt ist uns den Beweis für diese Behauptung schuldig geblieben. Laut Auskunft der Bundesbahn wurde der fragliche Zug von etwa einhundertfünfzig Personen benützt. Zwei davon waren der Tote und der Angeklagte. Worin liegt nun der schlüssige Beweis, wer wem nachgefahren ist?
Aber bleiben wir einmal bei der Annahme des Herrn Staatsanwaltes und setzen wirklich voraus, der Angeklagte habe Carl Weynert beobachtet und sei ihm nachgefahren. Er mußte also auch gesehen haben, wie Weynert in Bregenz den Zug verließ, und er mußte ebenfalls den Zug verlassen haben, um seine Reise dann immer hinter Weynert her, bis nach Davos fortzusetzen.
Und nun haben wir die eindeutige Aussage der Zeugin Mathilde Mueller. Sie bekundete vor Gericht, daß sich der Angeklagte im Zug nicht ein einziges Mal nach irgend jemandem umgesehen habe. Mußte er aber — falls er Weynert nachfuhr — nicht befürchten, daß dieser etwa schon in Klosters den Zug verließ?
Und wie würde sich ein Mensch verhalten, der einem anderen von München bis nach Davos nachfährt, sobald das Ziel der Reise erreicht ist? Würde er da nicht versuchen, herauszufinden, in welchem Hotel der Verfolgte absteigt?
Wir haben nicht nur die Versicherung des Angeklagten, sondern auch die Zeugenaussage der Frau Mueller, daß sich der Angeklagte auf dem Bahnhof Davos um niemanden gekümmert hat. Ja, er half Frau Mueller das Gepäck tragen und ging mit ihr ins Hotel »Löwen«. Wollen wir den Angeklagten wirklich für so dumm halten, daß er sein verfolgtes »Opfer« — wie es der Herr Staatsanwalt bezeichnete — just am Ziel der Reise aus den Augen läßt, um dann womöglich am nächsten Tag in hundert Hotels und Pensionen nach ihm zu suchen?
Wenn es also eines Beweises bedürfte, wer wem nachgefahren ist, dann ist der Beweis durch die Zeugenaussage der Frau Mueller erbracht, nämlich, daß der Angeklagte den Carl Weynert nicht verfolgt hat.«
Ich fand diese Logik zwingend und hatte den Eindruck, daß die Geschworenen genauso dachten. Der Staatsanwalt kritzelte mit verbissenem Gesicht etwas vor sich hin, und der Richter blickte stur geradeaus, als interessiere ihn alles nicht. Dr. Herrmann fuhr fort:
»Haben wir nun festgestellt, daß der Angeklagte dem Carl Weynert nicht nachgefahren sein kann, so bleiben nur noch zwei Möglichkeiten: entweder benützten beide zufällig den gleichen Zug, oder es war genau umgekehrt. Ich werde beweisen, daß Carl Weynert Grund genug hatte, dem Angeklagten nachzufahren.
In seinem Nachlaß fanden sich Briefe und Fotos, die von der verstorbenen Frau des Angeklagten stammten. Diese Briefe lassen an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig, und sie sind sehr wohl dazu geeignet, einen bisher unbescholtenen und sehr sensiblen Mann wie den Angeklagten damit zu erpressen.
Er selbst hat dem Gericht geschildert, wie sich Weynert an ihn herangemacht und ihm den Kauf der Briefe vorgeschlagen hatte. Der Herr Staatsanwalt glaubte dem Angeklagten nicht.
Und nun frage ich Sie, meine Herren Geschworenen: wem würden Sie eher Glauben schenken, einem Menschen, der bisher noch niemals mit dem Gesetz in Konflikt gekommen ist, einem Menschen, über den sein langjähriger Chef nur das Allerbeste zu sagen wußte, wie Sie selbst gehört haben — oder einem Carl Weynert?
Ich sehe, Sie sind überrascht. Sie finden es vielleicht sogar unpassend, über einen Toten Schlechtes zu sagen, und doch muß ich, um dem Gericht den Weg zur Wahrheit zu zeigen, einen Punkt berühren, über den sich der Herr Staatsanwalt bisher wohlweislich ausgeschwiegen hat: Carl Weynert war vorbestraft, und zwar zweimal wegen Betrugs, einmal wegen Unterschlagung und einmal — meine Herren Geschworenen! — wegen Erpressung!«
Das Brausen und Murmeln im Saal wurde so laut, daß der Richter klingeln mußte, um die Ruhe wieder herzustellen. Ich war nun ebenfalls fest davon überzeugt, daß mir nichts mehr passieren konnte. Beinahe mit Schadenfreude beobachtete ich das betretene Gesicht des Staatsanwaltes. Aber schon fuhr mein
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