Mord in Londinium
sich rechtwinklig kreuzende Straßen waren am Entwurf Londiniums sicherlich nicht beteiligt gewesen. Die Stadt hatte sich nie von einem großen Militärlager aus entwickelt, daher fehlte es ihr an Form und an Stadtmauern. Statt eines angenehmen, quadratischen Musters hatte man eine T-Form gewählt, deren langer Balken über den Fluss führte und sich dann in zwei Richtungen gabelte, diesseits mit Häusern und Läden entlang der wichtigen Straßen. Hinter den wenigen Hauptstraßen gab es kaum noch Bauten.
Am Nordufer wurden zwei niedrige Hügel durch mehrere frei fließende Wasserläufe geteilt. An den Ufern des Hauptwasserlaufs hatten sich Gewerbebetriebe angesiedelt. Das Forum stand auf dem östlichen Hügel, und die meisten der neuen Kais lagen am Fuße dieser Erhebung. Drüben, auf dem westlichen Hügel, mussten ebenfalls Wohnhäuser zwischen weiteren Handwerksbetrieben stehen, und ich hatte etwas gesehen, das wie Rauch aus einem Badehausschornstein aussah. Abgesehen von den gewaltigen Importen und bescheidenen Exporten, die an den Kais umgeschlagen wurden, war es eine Stadt der Töpfer und Gerber. Selbst zwischen den Häusern wurde auf frei liegendem Land Ackerbau und Viehzucht betrieben. Mindestens so oft wie das Kreischen von Sumpfvögeln und Möwen, die den Handelsschiffen folgten, hatte ich Kühe muhen und Schafe blöken hören.
Über eine gerade Hauptverkehrsstraße gelangte man vom Forum direkt zum Fluss hinab. Dort führte sie an der Fährenanlegestelle vorbei zu dem geplanten Brückenkopf. Auf Forumhöhe wurde sie von dem, was hier als Hauptstraße durchging, dem Decumanus Maximus, gekreuzt und weiter zum Fluss zu noch von einer zweiten, von Ost nach West verlaufenden Straße. Helena und ich folgten dieser Straße eine Weile und überquerten den Zugang zum Forum.
Die lückenhafte Bebauung setzte sich fort. Auf manchen Grundstücken waren neue Steinhäuser errichtet worden, andere standen noch immer leer und waren schwarz verkohlt. Die Rebellion lag fast fünfzehn Jahre zurück, aber der Wiederaufbau ging nach wie vor langsam voran. Nach dem Massaker durch die Stämme mussten einige Entflohene zurückgekehrt sein und ihr Land wieder in Besitz genommen haben, aber viele waren ohne Nachkommen gestorben – oder mit Nachkommen, die den Anblick nicht mehr ertragen konnten. Die Behörden zögerten, Land freizugeben, das anscheinend keinen Besitzer hatte. Es hatte eine Grundstücksregistratur gegeben, die verhinderte, dass jeder einfach zugreifen konnte. Doch es gab hier genug Platz. Die Entscheidung zu treffen, Grundstücke zu verkaufen, auf denen ganze Familien gestorben waren, musste eine traurige Angelegenheit sein. Also würde es vermutlich Jahrzehnte dauern, bis alle Lücken in diesen heimgesuchten Straßen geschlossen waren.
Helena griff nach meiner Hand. »Du grübelst schon wieder.«
»Kann nichts dagegen machen.«
»Ich weiß, Liebling. Eines Tages werden alle Spuren dessen, was hier passiert ist, verschwunden sein. Es wäre schlimmer, wenn alles sofort wieder in Ordnung gebracht worden wäre.«
»Gefühllos«, stimmte ich zu.
»Eines der traurigsten Dinge, die ich je gehört habe«, sinnierte Helena leise, »ist, wie der damalige Statthalter hierher eilte, um die Situation einzuschätzen, kurz bevor die wütenden Stämme eintrafen. Er wusste, dass seine Truppenstärke nicht ausreichte und er gezwungen sein würde, die Stadt zu opfern, um die Provinz zu retten. Also verschloss er sich dem Flehen der Bewohner und gestatteten nur denjenigen mitzukommen, die sich ihm und der Kavallerie anschließen wollten. Dann, so erfuhren wir später, wurden ›all jene, die zurückblieben, weil sie Frauen oder Greise waren oder sich durch die Annehmlichkeiten der Stadt zurückhalten ließen, vom Feind niedergemacht‹. Manche hingen also tatsächlich an Londinium, Marcus. Das ließ sie bleiben und dem sicheren Tod ins Auge sehen. Herzzerreißend.«
Ich sagte, das seien Idioten gewesen. Ich sagte es sanft. Was ich dachte, war schlimmer, aber das wusste sie. Es gab keinen Grund, ausfallend zu werden.
Während wir uns auf der Suche nach dieser traurigen Kaschemme namens ›Goldener Regen‹ umschauten, erschien es pervers, dass irgendjemand sentimentale Gefühle für diese Stadt hegte. Es gab hier keine Ädilen, die sich um Straßenreinigung oder Reparaturen kümmerten. Ein paar alles andere als elegante Portiken mit rot gedeckten Dächern boten keinen Schutz vor der Sonne, sondern vor dem Sturm.
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