Mord in Mesopotamien
mich, dass er, seit er die Araberjungen verhört hatte, einen Verdacht hegte. Nach einer Weile fragte er: «Haben Sie schon etwas herausgefunden, Monsieur Poirot?»
«Wollen Sie mir dabei helfen?»
«Selbstverständlich.»
«Es dreht sich alles um Mrs Leidner. Ich muss über sie Bescheid wissen», erklärte Poirot, ihn scharf musternd.
Langsam fragte Emmott: «Was meinen Sie damit?»
«Ich will nicht wissen, woher sie stammt oder welches ihr Mädchenname war, auch nicht, welche Farbe ihre Augen hatten und welche Form ihr Gesicht. Ich will etwas über sie wissen, wie sie war… sie selbst… was für einen Charakter sie hatte.»
«Sie glauben, dass das wichtig ist?»
«Bestimmt.»
«Vielleicht haben Sie Recht.»
«Und dabei können Sie mir helfen. Sie können mir sagen, was für eine Frau sie war.»
«Meinen Sie? Ich habe mir oft den Kopf darüber zerbrochen.»
«Mit Erfolg?»
«Ich glaube, ja.»
« Eh bien? »
Statt einer Antwort fragte mich Mr Emmott: «Was hielten Sie von ihr, Schwester? Es heißt, Frauen könnten sich übereinander rasch ein Urteil bilden, und Krankenschwestern sind von Berufs wegen gute Menschenkenner.»
Poirot gab mir nicht die Möglichkeit zu antworten, selbst wenn ich gewollt hätte, denn er sagte schnell: «Ich möchte die Ansicht eines Mannes über sie hören.»
Emmott lächelte leicht. «Ich glaube, dass alle ziemlich die gleiche Ansicht hatten. Sie war nicht mehr jung, aber sie war die schönste Frau, die mir je begegnet ist.»
«Das ist keine Antwort auf meine Frage, Mr Emmott. Ich möchte wissen, was Sie von ihr als Mensch, was Sie von ihrem Charakter hielten.»
«Ich weiß nicht, ob ich sie richtig beurteilt habe, sie war nicht leicht zu verstehen. An einem Tag brachte sie etwas Teuflisches fertig und am nächsten etwas Wunderbares. Aber ich glaube, Sie haben Recht, wenn Sie sagen, dass sich alles um sie drehte. Das wollte sie auch, das wollte sie immer… der Mittelpunkt sein. Und sie wollte auch alles über ihre Mitmenschen wissen. Sie gab sich nicht damit zufrieden, dass man ihr den Toast und die Butter reichte, nein, sie verlangte, dass man vor ihr seine Seele entblößte, ihr sämtliche Gedanken enthüllte.»
«Und wenn man ihr diesen Wunsch nicht erfüllte?»
«Dann konnte sie bösartig werden.» Er presste die Lippen zusammen und schob das Kinn vor.
«Mr Emmott, möchten Sie mir nicht ganz privat, ganz unverbindlich sagen, wer sie Ihrer Meinung nach ermordet haben könnte?»
«Ich weiß es nicht», antwortete Emmott, «ich habe nicht die leiseste Ahnung. Ich denke mir nur, dass ich, wenn ich Carl… Carl Reiter… wäre, sie mit Vergnügen ermordet hätte. Sie hat ihn bis aufs Blut gequält. Allerdings forderte er sie durch seine lächerliche Empfindsamkeit geradezu heraus; er reizt einen dazu, ihm einen Tritt zu versetzen.»
«Und gab ihm Mrs Leidner einen Tritt?», erkundigte sich Poirot.
«Nein, sie versetzte ihm nur kleine Nadelstiche… das war ihre Methode. Er kann einem wirklich auf die Nerven gehen mit seinem blöden, kindischen Getue; aber ein Nadelstich ist schmerzhaft.»
«Sie glauben doch nicht im Ernst, dass Carl Reiter sie ermordet hat?», fragte Poirot.
«Nein. Ich glaube nicht, dass man eine Frau umbringt, weil sie einen bei jeder Mahlzeit lächerlich macht.»
Poirot schüttelte nachdenklich den Kopf. Was Mr Emmott über Mrs Leidner gesagt hatte, warf ein sehr schlechtes Licht auf sie, aber dabei ist zu bedenken, dass Mr Reiter tatsächlich höchst enervierend gewirkt hatte. Er sprang wie ein Hampelmann auf, wenn sie mit ihm sprach, tat idiotische Dinge, reichte ihr zum Beispiel immer wieder die Marmelade, obwohl er wusste, dass sie keine aß, und so weiter. Selbst ich war oft in Versuchung gewesen, ihn anzufahren. Männer haben keine Ahnung, wie sehr sie durch ihr albernes Benehmen Frauen auf die Nerven gehen können. Und ich nahm mir vor, das Monsieur Poirot gelegentlich zu erklären.
Wir waren jetzt beim Haus angekommen, und ich eilte in mein Zimmer, um mich zu waschen.
Als wir alle ins Esszimmer gehen wollten, tauchte Pater Lavigny unter der Tür auf und bat Poirot, in sein Zimmer zu kommen.
So traten Mr Emmott und ich ins Esszimmer, wo sich bereits Miss Johnson und Mrs Mercado aufhielten. Bald erschienen auch Mr Mercado, Mr Reiter und Bill Coleman.
Wir hatten uns gerade gesetzt, und Mercado beauftragte den Araberjungen, Pater Lavigny zum Essen zu holen, als wir einen schwachen, gedämpften Schrei vernahmen.
Da wir alle
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