Mord in Mesopotamien
glaube, dass sie in den letzten Tagen glücklicher war und sich sicherer fühlte, weil Sie bei ihr waren. Sie haben sich also wirklich nichts vorzuwerfen.»
Seine Stimme zitterte leicht. Ich verstand ihn: Er machte sich Vorwürfe, weil er die Furcht seiner Frau nicht ernst genommen hatte.
«Doktor Leidner», fragte ich neugierig, «haben Sie eine Erklärung für die anonymen Briefe gefunden?»
Seufzend antwortete er: «Ich weiß nicht, was ich glauben soll. Hat Monsieur Poirot noch nichts darüber herausgebracht?»
«Gestern noch nicht», sagte ich, zwischen Wahrheit und Dichtung lavierend. Es stimmte insofern, dass erst ich Poirot auf die Möglichkeit aufmerksam gemacht hatte, Miss Johnson könnte die Briefschreiberin sein. Und jetzt wollte ich sehen, wie meine Entdeckung auf Dr. Leidner wirkte.
«Anonyme Briefe werden meist von Frauen geschrieben», fügte ich hinzu.
Wieder seufzte er. «Wahrscheinlich haben Sie Recht. Aber Sie vergessen, Schwester, dass in diesem Falle der Schreiber ein Mann gewesen sein kann, und zwar tatsächlich Frederick Bosner.»
«Das scheint mir unwahrscheinlich.»
«Doch», widersprach er. «Es ist Unsinn, dass es ein Expeditionsmitglied gewesen sein soll; das ist so eine von Monsieur Poirots genialen Hypothesen. Ich glaube, die Wirklichkeit ist viel einfacher. Der Mörder ist verrückt, bestimmt. Er muss sich hier herumgetrieben haben… vielleicht verkleidet. Irgendwie ist er an jenem Nachmittag hier eingedrungen. Die Diener können gelogen haben… sie sind vielleicht bestochen worden.»
«Das wäre möglich», sagte ich zweifelnd.
Etwas gereizt fuhr er fort: «Wenn Monsieur Poirot auch die Expeditionsangehörigen in Verdacht hat, so bin ich dagegen fest davon überzeugt, dass keiner von ihnen etwas damit zu tun hat. Ich habe mit ihnen zusammengearbeitet. Ich kenne sie.»
Er hielt inne, dann fuhr er fort: «Haben Sie die Erfahrung gemacht, Schwester, dass anonyme Briefe meist von Frauen geschrieben werden?»
«Nicht immer», antwortete ich, «aber es gibt bösartige Frauen, die dadurch Befriedigung finden.»
«Sie denken wahrscheinlich an Mrs Mercado?» fragte er, schüttelte dann aber den Kopf. «Selbst wenn sie so gehässig wäre, dass sie Louise verletzen wollte, fehlen ihr die nötigen Kenntnisse.»
Ich dachte an die früheren Briefe in der Schreibmappe. Wenn Mrs Leidner sie nicht verschlossen hatte und Mrs Mercado eines Tages allein im Haus war und herumgestöbert hatte, könnte sie sie leicht gefunden und gelesen haben. Männer denken nie an die einfachsten Möglichkeiten.
«Und außer ihr käme nur Miss Johnson in Frage», sagte ich, ihn beobachtend.
«Das ist doch lächerlich.»
Das leichte Lächeln, mit dem er das sagte, war aufschlussreich. Der Gedanke, dass Miss Johnson die Schreiberin der Briefe sein könnte, war ihm nie gekommen. Ich zögerte einen Augenblick… sagte dann aber nichts. Man beschuldigt nicht gern eine sympathische Frau, und zudem hatte ich es ja miterlebt, wie sehr Miss Johnson von Gewissensbissen gequält wurde. Was geschehen ist, ist geschehen. Und warum sollte ich Dr. Leidner noch mehr Schmerz zufügen?
Schließlich vereinbarten wir, dass ich am nächsten Tag Tell Yarimjah verlassen würde. Durch Vermittlung von Dr. Reilly konnte ich noch ein paar Tage im Krankenhaus Hassanieh unterkommen, um meine Rückreise nach England vorzubereiten.
Dr. Leidner forderte mich liebenswürdigerweise auf, mir unter den Sachen seiner Frau ein Andenken auszusuchen. «Aber nein, Herr Doktor», wehrte ich ab, «das kann ich nicht annehmen, das ist zu liebenswürdig von Ihnen.»
Doch er bestand darauf. «Ich möchte gern, dass Sie etwas haben, und ich weiß, dass ich in Louises Sinn handle.»
Dann bot er mir die Schildpattgarnitur an.
«Nein, Herr Doktor, die ist viel zu kostbar.»
«Louise hat keine Geschwister, keinen Menschen, der dafür Verwendung hätte.»
Ich konnte mir gut vorstellen, dass er die Garnitur nicht in Mrs Mercados Händen wissen wollte, und vermutlich wollte er sie auch nicht Miss Johnson anbieten.
Freundlich fuhr er fort: «Überlegen Sie es sich. Hier ist der Schlüssel zu Louises Schmuckkasten. Vielleicht finden Sie darin etwas, das Ihnen besser gefällt. Ich wäre Ihnen übrigens sehr dankbar, wenn Sie… ihre Kleider zusammenpacken würden. Reilly kann sie armen christlichen Familien in Hassanieh schenken.»
Ich ging in Mrs Leidners Zimmer. Rasch hatte ich die Kleider in zwei Koffer gepackt. Dann öffnete ich den
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