Mord in Thingvellir
also die Bibel«, fährt er fort.
»Darin wird ausführlich über Todesstrafen dieser Art berichtet. Wenn ich mich recht erinnere, findet sich ein Abschnitt darüber im dritten Buch Mose. Wir kennen auch einen Artverwandten dieses Brauches, nämlich die Rachepflicht, von der in den Isländersagas sehr viel die Rede ist. Zur Zeit des isländischen Freistaates, vor über siebenhundert Jahren, gab es in Island kein organisiertes Staatswesen, das dafür verantwortlich war, Verbrechen wie etwa Mord zu bestrafen. Deshalb war es Aufgabe der Männer jener Familie oder des Clans, in der der Schaden entstanden war, sich zu rächen, indem derjenige umgebracht wurde, der den Schaden verursacht hatte – oder einer seiner Angehörigen. Das hielten unsere Vorfahren für eine selbstverständliche Pflicht und sogar für eine ehrenwerte Heldentat.«
»Aber sie haben doch nicht ihre Schwestern oder Töchter umgebracht?«
»Nein, das wohl nicht, aber sie haben bestimmt, wen sie heirateten, so wie es auch heute noch in anderen Clangesellschaften üblich ist«, antwortet Hólmsteinn. »Das Patriarchat betrachtet nämlich Töchter als wertvollen Besitz. Es ist möglich, die Stellung der Familie innerhalb der Gesellschaft zu stärken, indem man die Töchter mit den richtigen Männern verheiratet oder sie an einflussreiche Herren verkauft. Aber diese Sichtweise, die Töchter als Eigentum zu betrachten, führt dazu, dass Väter und Brüder gewissenhaft darauf achten, dass nichts geschieht, was den Wert dieses Eigentums mindern könnte. Meistens bedarf es nicht viel, dass eine Frau, die in einer solchen Gemeinschaft lebt, im Wert fällt. Manchmal ist es nur Getuschel darüber, wie sie sich kleidet oder schminkt, oder wenn beobachtet wird, dass sie sich allein mit anderen Männern unterhält, die nicht ihr Vater oder ihre Brüder sind. Zweifellos hat nur das schon manche Frauen das Leben gekostet, zum Beispiel in Ländern wie Jordanien.«
Mir fällt Gunnhildurs Bericht wieder ein. Wie Múhammed mit Gewalt die Farbe von Soleens Lippen gewischt hat. Und die Schminke von ihren Wangen.
»Also ist sie eigentlich die Gefangene ihres Vaters?«
»Der Vater würde wahrscheinlich argumentieren, dass sie sein Edelstein ist, den er mit diesem Verhalten beschützen muss, um Schaden oder Diebstahl zu unterbinden. Aber wir, die die Freiheit des Einzelnen hoch ansehen, betrachten natürlich eine solche Behandlung von Frauen völlig anders.«
»Natürlich weiß ich, dass es überall auf der Welt jede Menge Kerle gibt, die der Meinung sind, dass Frauen ihr persönliches Eigentum sind«, sage ich. »Aber ich finde es wirklich unverständlich, wie jemand der Meinung sein kann, dass die Ehre der Familie angehoben wird, wenn ein Vater seine Tochter umbringt.«
»Was bedeutet denn Schande?«, fragt Hólmsteinn zurück.
»Einer der aktuellen Kritikpunkte an den westlichen Ländern ist der, dass sich niemand mehr für irgendwas schämt. Im Patriarchat hingegen gelten äußerst strenge Regeln, was als Schande gilt, und das ist oft verbunden mit außerehelichem Geschlechtsverkehr. Eine unverheiratete Frau, der nachgewiesen werden kann, Geschlechtsverkehr gehabt zu haben, bricht diese Regeln von Anständigkeit und Ehre. Mit einem solchen Verhalten bringt sie Schande über die Familie und den Clan. Die Ehre der Familie wird beschmutzt, und es ist die Pflicht des Vaters, diese Ehre wiederherzustellen. Aber das hat nichts mit dem Islam zu tun. Das alte Testament der Bibel erlaubt ebenfalls die Todesstrafe bei Hurerei.«
Hólmsteinn greift nach einem Buch auf seinem Tisch.
»Da dieser Fall nun Kurden betrifft, wollte ich die Gelegenheit nutzen und dich auf einen Artikel hinweisen, den ein Gelehrter namens Mela Mehmud im neunzehnten Jahrhundert über die Sitten und Bräuche der Kurden verfasst hat. Er erklärt diese Einstellung sehr deutlich und ausführlich. Die Quintessenz seiner Schrift über die Stellung der Frau lautet folgendermaßen: Eine Frau darf keinen Geschlechtsverkehr mit einem anderen Mann als ihrem Ehemann haben. Wenn sie dagegen verstößt, wird nicht gezögert, sie zu töten, und niemand wird denjenigen anklagen, der sie umbringt. Solcher Geschlechtsverkehr ist eine Schande, die die Familie nur durch Blutvergießen wiedergutmachen kann. Er ist auch eine Schande für den Clan und das Dorf, in dem die Familie wohnt. Die engste Umgebung der Familie sieht es als notwendig an, dass das Mädchen umgebracht wird. Wenn das nicht geschieht, wird die
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