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Mord in Thingvellir

Mord in Thingvellir

Titel: Mord in Thingvellir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stella Blómkvist
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langsam auf die Skúlagata lenkt. Und überlege mir, ob er unter Wahrheit das Gleiche versteht wie ich.
    »Die Wahrheit hat viele Gesichter.«
    Sagt Mama.

10
    Ehrenmord?
    Ich lege ein Exemplar der DV auf den Tisch vor Hólmsteinn Sigurvinsson. Er betrachtet die Namen und die Fotos der dazugehörigen Gesichter:
    Naime, 15 Jahre. Ermordet von ihren Brüdern. Ihr Vergehen: vor ihrem dreimal so alten Ehemann zu fliehen, den zu heiraten sie gezwungen wurde.
    Heshu Yones, 16 Jahre. Von ihrem Vater in London ermordet. Ihr Vergehen: Sie hatte vor, mit ihrem libanesischen Freund zusammenzuziehen.
    Pela Atroshi, 19 Jahre. Ermordet von ihren Onkeln. Ihr Vergehen: Sie hatte einen schwedischen Freund.
    Guldunya Toren, 24 Jahre. Ermordet von ihren Brüdern in einem Krankenhaus in Istanbul. Ihr Vergehen: ein uneheliches Kind zu gebären.
    Töchter, die von ihren Vätern ermordet werden. Schwestern, die von ihren Brüdern umgebracht werden.
    »Was, verdammt noch mal, soll das denn? Sind die geisteskrank?«, frage ich aufgebracht.
    Er erlaubt sich ein seichtes Lächeln auf meine impulsive Frage. Sein schmales Gesicht ist von seinen langen Aufenthalten unter heißer, südlicher Sonne gegerbt.
    Bei meiner Wahl von Spezialisten habe ich einen sehr einfachen Geschmack. Wie Oscar Wilde:
    Ich nehme nur das Beste.
    Hólmsteinn ist sowohl ein bekannter Wissenschaftler als auch ein Touristenführer, der isländische Reisende in ferne Länder begleitet. Er erforscht schon seit Jahrzehnten fremde Bräuche und hat Bücher über seine Reisen geschrieben, die ihn nach Griechenland, weiter in den Süden nach Saudi-Arabien und in den Westen bis nach Algerien geführt haben. Und er reist immer noch durch die Weltgeschichte, obwohl er letztes Jahr seinen siebzigsten Geburtstag gefeiert hat.
    »Was uns an den Bräuchen anderer Länder unsinnig oder sogar unheimlich erscheinen mag, lässt sich immer inhaltlich erklären«, sagt er und streicht sich über den weißgrauen Bart.
    »Es ist die Pflicht eines jeden, der in einer freien Gesellschaft lebt, sich zu informieren, anstatt unbegründete Urteile über Dinge zu fällen, mit denen man sich nicht auskennt.«
    »Deshalb komme ich ja zu dir«, kontere ich. »Um mich zu informieren.«
    »Das ist doch nur Sensationsjournalismus«, meint er und schiebt die Zeitung weg. »Da werden nur Anklagen abgedruckt, keine Erklärungen gegeben.«
    »Was kann denn einen Mord entschuldigen?«
    »Ich sagte Erklärungen, nicht Entschuldigungen. Es ist möglich zu verstehen, warum Menschen solche Untaten verüben, ohne dass die Erklärungen die Tat entschuldigen. Darin besteht ein großer Unterschied.«
    »Also, dann erklär mir das mal. Welcher Aspekt ihrer Religion gibt diesen Kerlen die Erlaubnis, ihre Töchter zu töten, nur weil sie frei sein wollen?«
    »Es ist ein verbreitetes Missverständnis in der westlichen Welt, dass ein Ehrenmord etwas mit Religion zu tun hat«, antwortet Hólmsteinn. »Gräueltaten in dieser Größenordnung sind die Folge des alten Patriarchats und der Clangesellschaft, die früher auf der ganzen Welt ihre Gültigkeit hatte. Also, sieh mal, da wo die Familie und der Clan immer noch die wichtigste gesellschaftliche Einheit im Leben der Menschen bildet, da ist auch das Patriarchat am ausgeprägtesten. Es ist zufällig so, dass dieses Gesellschaftssystem am häufigsten bei Völkern südlich des Mittelmeers existiert, aber man kann es auch an vielen anderen Orten finden, wo die Staatsmacht schwach ist. In solchen Situationen ist der Clan ein machtvolles Instrument der gegenseitigen Absicherung und deshalb eine wesentlich stärkere Stütze der Menschen im täglichen Leben als schwache und unsichere Regierungen.«
    Er hält sich ein weißes Taschentuch vor den Mund und hustet.
    »Der größte Vorteil der alten Clanwirtschaft bestand darin, dass sie eine Sicherheit für diejenigen darstellte, die dem Clan angehörten«, fügte er nach einer kurzen Pause hinzu.
    »Wenn ein Unglück geschah, kam der Clan zu Hilfe. Aber es gehörten auch verschiedene Pflichten dazu, vor allem, dem Clan keine Schande zu bereiten. Wenn jemand mit seinem Verhalten Schande über den Clan brachte, war es die Pflicht der Männer in der jeweiligen Familie, den Clan von dieser Schande zu reinigen. Und das führte meist zu einer Bluttat.«
    Hólmsteinn lächelt erneut schwach.
    »Es ist einfach für dich, diese Gedankengänge kennen zu lernen, in dem du das Buch liest, das in den meisten isländischen Familien vorhanden ist,

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