Mord in Thingvellir
Gesellschaft sich schützen, indem sie die gesamte Familie verstößt. Bei Mela Mehmud heißt es weiter: einziges Ziel dieser strengen Regeln ist, eine ständige Angst unter den Frauen zu schüren, damit sie selbst darauf bedacht sind, keusch zu leben.«
Er blickt aus dem Buch auf und fährt fort:
»Obwohl dieser Artikel vor über hundertfünfzig Jahren geschrieben wurde, ist das leider immer noch eine realistische Beschreibung der allgemein verbreiteten Ansicht in vielen Ländern, wie man an den überwiegend milden Urteilen sieht, die Väter erhalten, die ihre Töchter umgebracht haben.«
»Wie mild sind denn die Urteile?«
»Es ist relativ normal, dass sie zu einer Freiheitsstrafe von einem halben Jahr verurteilt werden, aber davon sitzen sie tatsächlich nur einen oder zwei Monate im Gefängnis.«
»Lächerlich.«
»Vergiss nicht, dass wir in einer Welt leben, in der manche Menschenleben auf der Waagschale der Gerechtigkeit besonders wenig wert sind«, erläutert Hólmsteinn. »Es ist noch gar nicht lange her, dass die Weißen in den Südstaaten der USA Schwarze umbringen konnten, ohne bestraft zu werden. Auch die Landnehmer in der West Bank werden in Israel nur pro forma verurteilt, wenn sie Araber töten, und bekommen oft ebenso geringe Strafen wie die so genannten Ehrenmörder in Jordanien.«
»Aber hier und jetzt? In der westlichen Welt des einundzwanzigsten Jahrhunderts?«
»Es gibt bereits viele Flüchtlinge in Westeuropa, die aus den Ländern stammen, in denen das Patriarchat herrscht. Das erklärt, warum solche grausamen Taten auch mitten unter uns vollbracht werden«, antwortet er. »Hier lernen junge Flüchtlinge eine Gesellschaftsform kennen, in der die Familie und der Clan einen relativ geringen Stellenwert haben. Obwohl auch einige westliche Männer sehr bestimmend auftreten und innerhalb ihrer Wohnung zu Gewalt neigen, ist der Vater nicht länger der Patriarch, der er früher einmal war. Die Teenager gehen ihre eigenen Wege. Mädchen, die nach Westeuropa kommen, lernen diese Freiheit kennen. Sie sehen, wie ihre isländischen, deutschen oder schwedischen Gleichaltrigen zum großen Teil selbst über sich bestimmen, und sie wollen natürlich die gleichen Rechte haben. Sie möchten eine gute Berufsausbildung abschließen und mit anderen offen umgehen, egal, ob es sich dabei um Jungen oder Mädchen handelt. Die Folge davon sind extreme Spannungen innerhalb der Familie, die einen handfesten Konflikt auslösen, der oft zu Gewalt und Unterdrückung, im schlimmsten Falle zu Mord führt.«
»Uff!«
»Natürlich versuchen viele Eltern, ihre Töchter dazu zu bewegen, innerhalb des Clans zu heiraten«, fügt Hólmsteinn hinzu.
»Die Mädchen sind einem großen Druck seitens ihrer Eltern und Geschwister ausgesetzt und geben oftmals auf und beugen sich dem Willen der Familie. Manche hingegen sehen keinen anderen Ausweg aus ihrer Misere, als Selbstmord zu begehen, und die bisherige Erfahrung zeigt, dass diejenigen, die tun, was sie für richtig halten, mit furchtbaren Racheakten rechnen müssen.«
»Was in diesem Fall passiert sein könnte?«
»Ich weiß über den Mord an Soleen nur das, was ich in den Medien gehört und gelesen habe, und wage zu bezweifeln, dass alles, was dort steht, stimmt. Aber wenn ihr Vater bereits eine Hochzeit mit jemandem aus dem Clan arrangiert hat und sie diese Pläne abgelehnt und sich stattdessen mit einem isländischen Jungen eingelassen hat, dann liegt hier die häufigste Ursache für einen Mord dieser Art vor.«
Ein Abendschauer hat die Luft vom Staub des Verkehrs gereinigt. Während ich über den regennassen Asphalt gehe, denke ich wieder über die Glaubwürdigkeit meines Mandanten nach.
Täuscht Múhammed mich?
11
Freitag, 20. August
Die Amtsschimmel halten zusammen.
Vor dem Bezirksgericht braucht der Bezirkie nur kurz über das Beweismaterial zu berichten, das seine Dienststelle angeblich gesammelt hat, um den Verdacht zu untermauern, dass Múhammed Grebase am Mord von Soleen beteiligt war.
Nur ein Detail aus den dürftigen Unterlagen sorgt für eine Überraschung:
Soleen ist nicht im Ertränkungspfuhl gestorben.
Die Obduktion hat ergeben, dass sich kein Wasser in ihren Lungen befand. Sie wurde also an Land ermordet.
Anhand der Schätzung des Rechtsmediziners starb Soleen zwischen 18 und 21 Uhr am Freitagabend, den 6. August. Die Leiche wurde einige Stunden später im Ertränkungspfuhl versenkt. Mitten in der Nacht.
Der Bezirkie betont, dass Múhammed kein
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