Mord mit kleinen Fehlern
Radfahrer mit gemeißelten Schenkeln musterte sie, als er an ihr vorbeibrauste, gefolgt von einem Trio schlaksiger Jogger, das sich synchron zu ihr umdrehte. Anne zog sich auf die obere Promenade zurück und las den Artikel immer wieder, in dem verzweifelten Versuch, das Geschehene zu begreifen.
Kevin ist frei, aber wie? Und warum hat man mich nicht verständigt?
Anne konnte die Stimme nicht zum Schweigen bringen - und auch die Fragen nicht. Hatten die Cops Willa mit ihr verwechselt? Wie denn? Sie sahen sich überhaupt nicht ähnlich. Willa hatte braune Augen, ihre Nase war ganz anders, und sie hatte keine Narbe. Wer hatte die Leiche identifiziert? Dann dachte Anne noch einmal darüber nach. Sie und Willa hatten ungefähr die gleiche Größe - beide etwa 163 Zentimeter - und dieselbe Kleidergröße, nämlich 36. Willas Haare waren so lang wie die von Anne, und ihre neue Haarfarbe kam Annes ziemlich nahe.
Anne spürte, wie sich ihr Herz zusammenkrampfte. Dann fiel ihr wieder ein, dass sie Willa, bevor sie aufgebrochen war, ein T-Shirt aus der Kanzlei geliehen hatte, auf dem ROSAT O & PARTNE R aufgedruckt war. Na und? Anne verstand plötzlich gar nichts mehr. Die Cops verließen sich bei der Identifikation von Leichen nicht auf T-Shirts, Haare oder Kleidergrößen. Sie bedienten sich dafür der DNA, zahnärztlicher Unterlagen, wissenschaftlicher Methoden und dergleichen eben, oder nicht?
Kevin hätte gewusst, dass ich es nicht bin.
Es ergab einfach keinen Sinn. Oder hatte er jemanden angeheuert? Nein. Niemals, nicht einmal vom Gefängnis aus. Er würde es selbst erledigen wollen. Sie fühlte sich wie vor den Kopf gestoßen. Wer war in ihrem Haus getötet worden? Warum verwechselte man die Tote mit ihr? Ihr Kopf pochte. Die Zeitung in ihrer Hand juckte. Sie wollte sie keine Sekunde länger in der Hand halten. Anne wirbelte herum, ließ die Wasserflasche fallen und stieß mit einem anderen Jogger zusammen, einem Mann mittleren Alters, der erfreut schien, sie in seinen Armen auffangen zu dürfen.
»Entschuldigen Sie, Miss«, sagte er, dann runzelte er hinter einer Croakie-Brille, die an einem breiten, roten Band um seinen Hals gesichert war, die Stirn. »Geht es Ihnen gut? Sie zittern so furchtbar ...«
»Es geht mir gut«, erwiderte Anne und riss sich los. Sie stolperte gegen einen Mülleimer und warf die Zeitung in ein Nest aus Budweiser-Dosen und Fritten-Tüten. Ihre Knie gaben unter ihr nach, als ob ihr jemand die Schienbeine weggekickt hätte.
Sie hielt sich an dem Mülleimer fest. Ihr Herz raste. Die Sonne brannte. Der Müll stank. Fliegen summten. Eine Welle der Übelkeit schwappte über sie hinweg, und sie stieß sich vom Mülleimer weg, aber um sich herum nahm sie nichts mehr wahr. Die Sonne bleichte die Menschen knochenweiß. Himmel und Wolken wirbelten wie die Graffiti-Wand einer Uferpromenade an ihr vorbei.
»Miss?«, rief eine Männerstimme, und durch die gleißende Helligkeit nahm Anne ganz verschwommen wahr, dass ein weiterer Mann auf sie zukam. Dann liefen noch mehr Leute auf sie zu.
Der Mann mittleren Alters sagte etwas. Der zweite Mann war direkt über ihrem Gesicht, sein Atem roch nach Kaffee. Er packte ihren Arm. Ein dritter Mann nahm ihren anderen Arm, als ob er ihr auf die Beine helfen wollte, aber Anne hatte gar nicht das Gefühl, zu Boden gefallen zu sein. Der Griff der Männer glich Handschellen an ihren Gelenken. Ihr Herz flatterte vor Furcht. Ihr Gehirn bemühte sich krampfhaft, wieder zu funktionieren. Sie hatte keinen Schutz. Keine Waffe, kein Handy. Nicht einmal eine Unterlassungsverfügung.
Adrenalin strömte durch ihren Körper. Ihr Herz drohte zu explodieren. Sie kämpfte gegen die Männer, entzog sich ihrem Griff, rief Worte, die sie nicht hören konnte. Sie wichen zurück und sahen perplex zu, wie Anne sich auf die Beine kämpfte, die Galle schluckte, die ihr hochgekommen war, und den Blick auf den schaukelnden Horizont richtete. Sie starrte so lange auf den Himmel, bis er sich normalisierte. Die Sonne nahm wieder ihre Position ein, und die Wolken zogen zurück an ihre Plätze. Anne gewann ihr Gleichgewicht wieder, und die Männer, die um sie herumstanden, rückten in ihr Sichtfeld. Sie hörte auch, was sie sagten:
»Versuchen Sie nicht aufzustehen. - Sie haben einen Schwächeanfall! Sind Sie Diabetikerin?« - »Ich rufe einen Arzt! Ich habe mein Handy dabei!« - »Können Sie mich hören?« -
»Miss? Wie heißen Sie?« - »Ich sage euch, sie ist dehydriert. Sie braucht
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