Mord ohne Leiche
griff nach dem Telefonhörer und
tippte die Nummer von All Souls ein. Jack meldete sich. Im Hintergrund war der
Fernseher zu hören, in dem vermutlich ein alter Film lief.
Ich sagte: »Hast du meinen Namen auf
die autorisierte Besucherliste von Foster setzen lassen?«
»Ja, als ich heute nachmittag draußen
war. Ich habe mit ihm über dich gesprochen. Er weiß also, wer du bist und warum
du kommst.«
»Gut. Morgen früh fahre ich zu ihm.«
»Was hältst du von dem Material, das
ich dir gegeben habe?«
»Du hattest recht — das Geständnis ist
verdammt brutal. Und es hat mir nicht ein bißchen gefallen. Aber...«
»Aber?«
»Es gibt da etwas, das mich mit einem
Urteil zögern läßt, solange ich nicht mit ihm gesprochen habe.«
3
Als ich an jenem Donnerstag nach meiner
Rückkehr von San Quentin den schäbigen viktorianischen Bau auf den Bernal
Heights betrat, in dem All Souls residierte, hatte ich die restlichen
Vorbehalte gegenüber dem Fall Foster beiseitegeschoben. Ich brannte darauf, ihn
zu bearbeiten. Ich schien jedoch der einzige Mensch dort zu sein, der in
Arbeitsstimmung war: Im Vorzimmer warteten keine Klienten, und die Türen zu den
Büros und zur juristischen Bibliothek standen offen. In den Räumen war es
dunkel. Ted Smalley, unser Sekretär, saß an seinem Schreibtisch, aber sein
Computer-Keybord war zugedeckt. Dafür las er eifrig in einem dieser Revolverblätter,
die sich bemühen, den National Enquirer noch zu übertreffen.
Als ich hereinkam, murmelte er: »Was
wird dieser verrückte Sean Penn wohl als nächstes tun?«
»Verzeihung, wenn ich dich bei deinen
Studien störe«, sagte ich.
Ted hob die Zeitung, so daß ich die
Schlagzeile lesen konnte: WAHNSINNIGER KANNIBALE WOLLTE NIXON KOCHEN. Er wußte,
daß mich seine Leidenschaft für Greuelgeschichten irritierte, und so nahm er
jede Gelegenheit wahr, sie mir vorzuführen. »Was kann ich für dich tun?« fragte
er.
»Sind Rae oder Jack da?«
»Jack nicht. Rae ist oben im
Dachgeschoß.«
Das war ein ungewohnter Aufenthaltsort
für meine Assistentin, Rae Kelleher. »Was, um alles in der Welt, macht sie da
oben?«
»Das wirst du schon sehen.« Er lächelte
geheimnisvoll. »Kommst du zur Silvesterparty?«
»Ja. Ich habe mir dafür sogar ein neues
Kleid gekauft.«
»Ich auch.«
Ich sah ihm genauer ins Gesicht, um
herauszubekommen, ob er es ernst meinte.
»Nicht wirklich«, setzte er hinzu. »Nur
ziemlich unkonventionell. Aber ich glaube, die meisten Leute würden die Stirn
runzeln, wenn ich allzuviel Dekolleté zeigte.«
»Man kann nie wissen. Ich jedenfalls
fände es amüsant.« Ich ging, und Ted widmete sich wieder seinem Revolverblatt.
Ich legte Mantel, Umhängetasche und
Aktenmappe in meinem Büro vorne im ersten Stock ab und folgte dann dem Gemisch
aus Klopfen und Fluchen hinauf ins Dachgeschoß. Der Krach kam aus dem hinteren
Teil des höhlenartigen und zugigen Raumes, und die fluchende Stimme gehörte Rae
Kelleher. Ich blieb stehen und lauschte lächelnd. Raes normale Kraftausdrücke
bewegten sich im Bereich von »Oh, verdammter Mist!« Ich hatte nie bemerkt, daß
sie über ein so farbiges Vokabular verfügte. Ich arbeitete mich zu ihr vor und
mußte mich dazu zwischen diversen Kartons, Truhen, Koffern und zusammengewürfelten
Möbeln hindurchschlängeln — alles Dinge, die nicht mehr in den kleinen Zimmern
im zweiten Stock unterzubringen gewesen waren. Auch ausrangiertes Zeug von
früheren Bewohnern war dabei.
Rae stand am hinteren Gaubenfenster,
hielt einen Hammer in der Hand und hatte den Daumen im Mund. Sie ist eine
winzige Frau mit kastanienbraunen Locken, die sich mit so nachlässiger
Geschmacklosigkeit anzuziehen pflegt, daß ich immer von neuem staune. Heute
hatte sie sich selbst übertroffen: Eine farbverschmierte Hose mit
bonbonfarbenen Streifen, die unten so weit ausgestellt war, wie ich es seit
1970 nicht mehr gesehen hatte; ein purpurroter sackartiger Pullover, von
Fusselknötchen übersät — ich sage Pullovermäuse dazu; ein gelbgepunktetes Tuch,
das ihre Haare bändigte. Über ihre Stirn zog sich eine kräftige Schmutzspur,
und noch kräftiger wirkte der finstere Ausdruck auf ihrem runden,
sommersprossigen Gesicht. Als sie mich sah, nahm sie den Daumen aus dem Mund
und sagte: »Verdammt, warum hat mir meine Mutter das Nähen beigebracht und
nicht, wie man Nägel richtig einschlägt?«
Ich sah mich um. An einer Wand lehnte
ein Stapel Rigipsplatten. Zwischen die aufgenagelten Dachlatten war
Isoliermaterial
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