Mord ohne Leiche
geben Sie auf.«
Keine Antwort. Keine verräterischen
Geräusche mehr.
Ich kroch auf das eingefallene
Ruderhaus zu und prüfte bei jedem Schritt meinen Halt. Der Lukendeckel lag
wieder über der Öffnung in den Planken. Ich war sicher, daß die Leute vom
Erkennungsdienst ihn dort nicht wieder hingelegt hatten.
Ich trat näher heran. Sah ihn mir an.
Ich streckte meinen rechten Fuß vor und stieß gegen den Deckel.
Er rührte sich nicht.
Ich hielt mich an einem der
Stützpfosten des Ruderhauses fest, fuhr mit der Stiefelspitze unter den Rand
des Deckels und ließ ihn hochschnellen.
Krachend fiel er zur Seite. Der modrige
Geruch des Grabes stieg mir in die Nase.
Ich hielt den Revolver in die Öffnung
und beugte mich vor. Ich sah auf Rob Soriano hinunter.
Wortlos sah er zu mir auf. Mit einem
seiner Augen schien etwas nicht zu stimmen. Dann sah ich, daß ein Brillenglas
zerbrochen war. Blut tropfte von der klaffenden Wunde auf seiner Wange. Er
verzog heftig den Mund und wich zurück.
Ich hatte erwartet, daß Soriano
schließlich zusammenbrechen würde. Jetzt war es soweit. Jetzt hatte er Angst.
Als ich zu ihm hinunterstarrte, spürte
ich nichts als Wut — jetzt wieder kalte und nüchterne Wut.
Ich könnte ihn ohne weiteres erschießen,
dachte ich. So, wie er Emmons erschossen hatte. Ich sollte ihn
erschießen. Sinnlos, diesen abgrundbösen Menschen am Leben zu lassen. Sinnlos,
durch alle Stationen zu gehen: Festnahme, Gerichtsverfahren, Freiheitsstrafe,
schließlich Hinrichtung. Es würde keinen Unterschied machen.
Er bewegte sich den Bruchteil eines
Zentimeters. Meine Hände spannten sich um den .32er. Ich würde Notwehr geltend
machen.
Jetzt hörte ich die Sirenen, noch fern
zwar, doch deutlich in der stillen Nacht. Hunde heulten, als wollten sie die
Sirenen nachahmen.
Wieder bewegte sich Soriano. Er zog
sich weiter in den Bauch des Bootes zurück. Das Mondlicht fiel durch die
Weidenzweige, die sich im Wind bewegten, und seine Strahlen wurden kalt vom
zerbrochenen Glas seiner Brille reflektiert.
Notwehr, dachte ich noch einmal.
Die Sirenen kamen näher.
Gib mir einen Grund, den Abzug hier zu
ziehen. Irgendeinen Grund.
Die Sirenen waren jetzt auf Höhe der
Eisenbahnbrücke. Sie heulten die Reihe der Cottages entlang. Mit vorgestreckter
Waffe schob ich mich näher an die Öffnung in den Planken heran.
Drüben am Cottage der Barbours
verstummten die Sirenen plötzlich. Man hörte Männerstimmen rufen.
Soriano machte eine hektische Bewegung.
Er glitt auf den Bootsrippen aus.
Ich hob die Waffe und gab einen
einzelnen Schuß ab.
In die Luft, damit sie wußten, wo wir
waren.
29
Samstags kam mir der Besuchertrakt von
San Quentin freundlicher vor als sonst. Vielleicht lag es an den vielen
Kindern. Mit frisch geschrubbten Gesichtern und herausgeputzt für den Daddy-Besuch
vermittelten sie eine Atmosphäre von Normalität und Hoffnung. Vielleicht hatte
es auch damit zu tun, daß ich wußte: Dies ist meine letzte Fahrt hierher — für
lange Zeit, wenn nicht für immer. Und sicher hatte es auch eine Menge mit der
Freude zu tun, die Leora Whitsun im Gesicht stand, als wir auf Bobby warteten.
Ich hatte nicht herkommen wollen. Ich
wollte keine Dankesreden hören und auch keine Fragen beantworten. Aber Leora
hatte darauf bestanden, und nun war ich da.
Diesmal mußten wir nicht lange warten,
und der Beamte am Empfang lächelte uns richtiggehend an, als wir uns auswiesen.
Der Wärter, der uns in den kleinen, kargen Besuchsraum führte, sagte zu mir:
»Gut gelaufen.« Der Fall war in den lokalen und auch in den landesweiten
Nachrichten ausgiebig behandelt worden. Anonymität würde in nächster Zeit eher
Seltenheitswert bekommen.
Nachdem der Wärter uns eingeschlossen
hatte, seufzte Leora und sah sich um. »Wie oft werde ich hier noch sitzen und
diese vier Wände anstarren müssen?«
»Nicht mehr oft. Vielleicht nie mehr.
Es bleiben noch ein paar Formalitäten zu erledigen, aber Jack hat schon alles
in die Wege geleitet. Der Fall hat zu viel Aufmerksamkeit in den Medien
gefunden, als daß ihn jemand zu verschleppen wagte.«
»Es wird gut sein, meinen Jungen wieder
zu Hause zu haben.« Sie setzte sich und strich ihren Jeansrock glatt. »Und zu
Hause — das wird nicht mehr in den Projects sein.«
»Nicht?«
»Nein. Ich habe eine Wohnung gefunden.
In der Nähe der Klinik. Nicht sehr groß, aber es wird ein Zuhause sein.«
Sie nickte nachdrücklich, und die goldenen Ohrringe klapperten
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