Mord ohne Leiche
nicht mehr.«
»Haben Sie gefragt, was sie damit
meinte?«
»Natürlich. Aber sie wollte nicht
genauer werden. Sie sagte bloß, daß die Umstände den Menschen verändern, ihn
verleiten, Dinge zu tun, die sie nie tun wollten, und Dinge zu unterlassen, die
sie eigentlich für richtig halten. Als ich in sie drang, sagte sie, sie habe
mehrmals etwas getan, was andere verletzt hätte, aber das Schlimmste sei eine
Unterlassung gewesen — da habe sie eine Situation nicht richtiggestellt und
damit ganz sicher jemandem geschadet, den sie gern hatte. Danach wollte sie
kein Wort mehr sagen. Später, nach ihrem Verschwinden, nahm ich an, sie sei vor
irgendetwas geflohen, das ihr dieses Gefühl gab, ein schlechter Mensch zu sein.
Ich habe stets geglaubt, daß sie eines Tages damit fertig werden und heimkehren
würde.«
Ich schrieb das ungefähre Datum des
Gesprächs in mein Notizbuch und dazu in Blockschrift die Worte: SCHLECHTER
MENSCH / UNTERLASSUNG / VERLETZUNG. Ich grübelte eine Minute lang darüber nach,
dann sagte ich: »Das könnte zwar von großer Bedeutung für das sein, was
passiert ist, aber es erklärt noch nicht, warum Sie über den Erpresserbrief
hinweggehen, den Sie bekommen haben, und über den blutbefleckten Wagen, den man
in den Bergen gefunden hat.«
Sie seufzte tief. »Ich hatte gehofft,
ich müßte es nicht erklären... Miss McCone, es mag sich aus dem Munde von
Tracys Mutter schrecklich anhören, aber Tracy ist nicht der... Ausbund an
Tugend, zu dem die Zeitungen sie gemacht haben. Sie ist, wie ich schon sagte,
selbstsicher, gewissenhaft und loyal gegenüber allen, die sie liebt, aber sie
ist auch sehr ehrgeizig und...«
»Und?«
»Sie kann sehr... skrupellos sein, wenn
es ihren Zwecken dient. Sie ist ein Erfolgstyp, und Leute, die viel erreichen
wollen, können oft egozentrisch und grausam sein. Meine Tochter hatte in sehr
kurzer Zeit sehr viel erreicht. Das hatte ihren Appetit geweckt, so wie der
Geschmack von Blut den Appetit eines Raubtiers weckt.«
Das war ein seltsamer, verstörender
Vergleich. »Sie meinen also, der Brief und der Wagen sind von Tracy getürkte Indizien,
um jeden, der nach ihr sucht, in die Irre zu führen?«
»Ja.«
»Würde sie denn Bobby Foster
tatsächlich sterben lassen, nur damit niemand sie findet?«
Laura Kostakos hob den Blick und sah
mich an. In Ihren Augen spiegelte sich schwach der Schein der Lampe neben mir,
und sie schienen aus dem gleichen Lavagestein zu sein, wie draußen der Pool.
»Das kann ich nicht glauben. Sie muß vorhaben, zurückzukehren, bevor es
geschieht.«
Und inzwischen ließ sie Bobby Foster — den
man für ihren Freund hielt — lebendig durch die Hölle gehen. Wenn die Theorie
ihrer Mutter über ihr Verschwinden stimmte, dann hatte Tracy einen
befremdlichen Weg voller Ungereimtheiten gewählt, um mit den Problemen fertig
zu werden, die sie in ihren Augen zu einem schlechten Menschen gemacht hatten.
Ich sagte: »Fällt Ihnen irgend jemand
ein — ein Freund oder ein Verwandter vielleicht der sie versteckt halten
würde?«
»Ich habe mit allen Verbindung
aufgenommen, die mir eingefallen sind. Niemand hat von ihr gehört, und nach
Lage der Dinge bin ich ziemlich sicher, daß sie mich nicht belügen.«
»Und ein Versteck außerhalb der Bucht
von San Francisco? Irgendein Ort, zu dem sie eine Beziehung hat oder den sie
gut kennt?«
Sie dachte kurz nach. »Wir hatten
einmal ein Sommerhaus an der Küste von Mendocino, aber das ist schon vor Jahren
verkauft worden. Und sonst, nein, mir fällt kein anderer Platz ein.«
Natürlich konnte sie nicht alle Plätze
kennen, die Tracy besucht haben mochte, seit sie von Palo Alto weggezogen war.
Und genausowenig konnte sie mit ihren Nachfragen alle Personen erreicht haben,
die ihre Tochter gekannt hatte.
Ich hatte noch eine Frage. »Warum
vermuten Sie, daß sie glaubte verschwinden zu müssen, um mit diesen Problemen
fertig zu werden?«
»Ich weiß nicht.«
»Aber Sie müssen sich doch Gedanken
darüber gemacht haben.«
»Natürlich!« Es war ein schmerzlicher
Ausruf. »Seit es passiert ist, habe ich kaum an etwas anderes gedacht. Immer
und immer wieder bin ich das Gespräch durchgegangen, das wir damals beim Lunch
geführt haben. Ich habe alles noch und noch überprüft, was sie mir in den
Wochen und Monaten davor gesagt hatte. Aber ich habe nicht die Spur einer
Idee.«
Ihr glitzernder Blick wandte sich von
mir ab und suchte einen Punkt irgendwo in der heraufziehenden Dunkelheit. Die
Angst in
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