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Mord ohne Leiche

Mord ohne Leiche

Titel: Mord ohne Leiche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcia Muller
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Nachmittag hinter den Scheiben war dunkler geworden,
und der Pool aus schwarzem Lavagestein erinnerte mich an eine Lagune, in der es
von unbekannten Lebewesen wimmelte.
    »Mrs. Kostakos?«
    »An der Pinie hinter dem Pool hängt ein
Gefäß mit Honigwasser für die Kolibris«, sagte sie. »Sehen Sie ihn?«
    Ich sah in die Richtung und entdeckte
einen rötlichen Schimmer. »Ja.«
    »Den habe ich letzten Sommer dort
aufgehängt. Ich wollte die Kolibris anlocken, damit ich nicht so allein bin.
Aber da ist ein ganz bösartiger dabei. Immer wenn die anderen zum Trinken
kommen, fällt er über sie her und vertreibt sie. Das erinnert mich daran, wie
die Leute über mich hergefallen sind und meine Hoffnungen vertrieben haben.«
    Ich wußte nicht, was ich dazu sagen
sollte.
    »Wissen Sie, was ich mit diesem Vogel
mache?« fuhr sie fort. »Ich beobachte ihn, um seine Gewohnheiten
kennenzulernen. Ich habe einen hübschen, flachen Stein gefunden, der gut durch
die Luft segelt. Sobald ich sicher bin, daß ich den richtigen Vogel erwische,
werde ich ihn töten.«
    Ihre Worte kamen leidenschaftslos,
dennoch schwang in ihnen eine untergründige Wut mit, die mich irritierte. Ich
zog es vor, nicht darauf zu reagieren, und sagte sanft: »Wenn Sie ihn töten,
wird einer der übrigen Vögel die Rolle des Aggressors übernehmen.«
    »Ich tu es auf jeden Fall.«
    Vielleicht half es ihr, aber ich
bezweifelte es. Wahrscheinlich würde sie zu guter Letzt versuchen, die gesamte
Kolibri-Population von Palo Alto auszurotten. »Mrs. Kostakos, kommen wir wieder
auf Tracy zu sprechen — «
    »Wissen Sie, die Leute halten mich für
verrückt.«
    Wieder schwieg ich. Sie schien sich dem
Thema auf ihre Weise zu nähern, und ich ließ sie gern gewähren.
    »Mein Mann hat mich verlassen, weil er
nicht mehr mit einer verrückten Frau leben konnte. Er hält meine Reaktion auf
Tracys Verschwinden für eine gefährliche Form von Besessenheit. Meine Studenten
und Kollegen im Mathematikinstitut haben angefangen, mich mit Samthandschuhen
anzufassen, als fürchteten sie, bei einem falschen Wort, würde ich schreiend
auf die Straße rennen. Natürlich beunruhigt Mathematiker alles, was von der
statistischen Norm abweicht. Sie verstehen, warum ich mich im Institut
beurlauben lassen mußte.«
    »Arbeiten Sie derzeit etwas? Schreiben
Sie einen Aufsatz, ein Buch —«
    »Nein, nichts. Ich kann mich nicht konzentrieren.
Ich gehe sogar kaum noch aus dem Haus.« Ihre Worte kamen jetzt schneller. »Die
Nachbarn reden größtenteils nicht mehr mit mir. Sie sehen mich komisch an. Wenn
ich mal ausgehe, sind die Leute in den Geschäften, auf der Straße... Es ist,
als hätte ich eine Ausstrahlung, vor der sie Angst haben. Mache ich Ihnen
angst, Miss McCone?«
    »Nein.«
    »Halten Sie mich für verrückt?«
    »Ich glaube, Sie sind einsam und stehen
unter einer schrecklichen Spannung.«
    Sie nahm ihr Knie von der Bank und
drehte sich zu mir um. »Danke, daß Sie das sagen, auch wenn es nicht wahr ist.«
    »Ich habe es ehrlich gemeint. Glauben Sie denn, daß Sie verrückt sind?«
    Bei dieser Frage sank sie auf die Bank
in der Fensternische. »Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht.«
    »Vielleicht sollten Sie zu einem
Therapeuten gehen.«
    »Das habe ich schon getan. Aber ich
kann nicht mehr. Es hilft nichts. Das einzige, was helfen würde...«
    »Wäre, herauszubekommen, was mit Ihrer
Tochter passiert ist.«
    Sie nickte und ließ den Kopf sinken, so
daß ihr Haar die hohen Backenknochen streifte. Die Schatten von den Wänden
zwischen den Fenstern ließen ihr Haar leblos erscheinen, mehr grau als blond.
    »Mrs. Kostakos«, sagte ich, »bitte,
helfen Sie mir. Damit helfen Sie auch sich selbst. Und Tracy.«
    »Wie?«
    »Sagen Sie mir, wie Sie darauf kommen,
daß Tracy freiwillig verschwunden ist.«
    Sie sagte nichts. Sollte sich also das
Schweigen breitmachen, minutenlang. Der graue Tag am Jahresende ging dahin. Das
Rot des Honiggefäßes für die Kolibris war verblaßt und mit den Nadeln der Kiefer
verschmolzen.
    Schließlich sagte sie: »Also gut. Es
gab da eine Sache, in der Woche, bevor sie verschwand. Beim Lunch an jenem
Freitag fragte sie mich, ob ich sie für einen guten Menschen hielt. Ich sagte
ja, natürlich — , wie man so daherredet, wenn einen jemand mit einer wichtigen
Frage in einem Moment der Unaufmerksamkeit erwischt. Sie schien jedoch zu
spüren, daß meine Antwort eher ein Reflex war, denn sie sagte, vielleicht sei
sie das einmal gewesen, aber wahrscheinlich jetzt

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