Mord ohne Leiche
dem Bildschirm.
Ich ging zu ihm, blieb hinter ihm stehen, legte ihm die Hände auf die Schultern
und sah ebenfalls zu.
Ich hatte Fotos von Tracy in den
Zeitungen gesehen, aber sie entsprachen nicht im entferntesten der lebendigen
jungen Frau, die sich hier auf dem Videoband bewegte. Sie hatte das blonde Haar
ihrer Mutter, die energischen Züge ihres Vaters, war groß und mager, mit
ausdrucksvollen Gesten und trug ihren Text dabei mit unbewegtem Gesicht vor.
Nicht einmal verdarb sie die Wirkung, indem sie über ihren eigenen Humor
lachte. Mühelos schlüpfte sie von einer Rolle in die andere, von einer
alleinstehenden Mutter namens Gloria bis zu einer wilden Feministin namens
Fran. Sie ging in jeder neuen Person auf und stellte sie so überzeugend dar,
daß ich für Augenblicke vergessen konnte, daß das hier Tracy Kostakos war, die
Tochter, die George betrauerte und die Gegenstand meiner Ermittlungen war. Ich
merkte, wie ich plötzlich über das Dilemma der Feministin lachte, das mit der
Pointe endete: »Wenn Gott gewollt hätte, daß uns Haare unter den Armen wachsen,
hätte Sie uns dann Nair gegeben?« Es war der Satz, den Kathy Soriano am
Donnerstagabend zitiert hatte. Seine Trivialität ließ das Problem echt klingen.
Auch George lachte. »Himmel, konnte sie
komisch sein«, sagte er. »Ich mag eigentlich diese Stegreif-Comedys nicht
besonders, aber ihr könnte ich stundenlang zuschauen.
»Hast du viele Videos von ihr?«
»Dutzende. Praktisch von jeder Rolle,
die sie gespielt hat. Sie lagen in ihrem Apartment, und ich habe sie mit nach
Hause genommen in der Absicht, sie mir anzusehen. Aber ich hatte nie den Mut
dazu, und als ich Laura verließ, wollte sie sie nicht haben. Sie sagte, sie
brauche die Bänder nicht, um sich an Tracy zu erinnern, denn sie werde ohnehin
bald zurückkommen. Also habe ich sie mit hierher genommen. Bis heute hatte ich
mir kein einziges davon angesehen.«
Ich schaute wieder auf den Bildschirm.
Fran, die Feministin, hatte sich in eine lesbische Kellnerin namens Ginny
verwandelt. »Ich frage mich«, sagte ich.
»Was fragst du dich?«
»Diese Bänder — da könnte doch etwas
drauf sein.«
»Du meinst etwas, das uns erklären
könnte, was passiert ist?«
»Vielleicht... Nein, wahrscheinlich ist
es eine dumme Idee. Außerdem kann ich mir nicht vorstellen, daß ich mir
Dutzende davon anschaue — nicht, solange es Spuren gibt, deren Verfolgung mehr
verspricht.«
»Vielleicht möchtest du dir die
ansehen, die kurz vor ihrem Tod gemacht wurden. Alle Bänder, die ich habe, sind
datiert.«
»Vielleicht mache ich das.« Ich sah auf
die Uhr am Videorecorder. Es war fast sechs. Draußen war es noch dunkel.
»Alsdann — « fügte ich hinzu, »wir sollten uns diesen tollen Kaffee brauen. Es
gibt einige Leute, die würde ich gerne überrumpeln, bevor ein morgendlicher
Koffeinstoß seine Wirkung tun kann.«
12
Als ich kurz nach sieben Amy Barbours
Haus erreichte, kam gerade ein Mann im Jogginganzug heraus. Ich fing die
eiserne Gartentür ab, bevor sie zufiel. Er wollte etwas sagen. Doch dann zuckte
er mit den Schultern und lief den Bürgersteig abwärts. Ich stieg die Stufen hinauf
und klopfte an Amys Tür.
Etwa eine halbe Minute lang passierte
gar nichts. Dann hörte ich Amys Stimme, ich solle warten, sie komme gleich.
Kurz darauf drehte sich der Schlüssel, die Kette rasselte, und Amys Gesicht
erschien im Türspalt. Sie sah käsig aus und hatte einen verschwommenen Blick.
Ihr dunkelrotes Haar stand in kleinen Büscheln hoch. Ich fragte mich, ob sie
wohl morgens immer so schlecht aussah oder ob ihre Erscheinung die Folge einer
allzu ausgiebigen Silversterfeier war.
»Was, zum Teufel, machen Sie zu dieser
Zeit hier?« fragte sie.
Aus ihrem Verhalten schloß ich, daß sie
noch nicht wußte, daß ich Tracys Leiche gefunden hatte. Ich hatte Detective
Gurski von einer möglichen Verbindung zwischen dem Cottage und Tracys
Wohnungsgenossin erzählt und ihm auch Amys Adresse und Telefonnummer gegeben,
aber es gab sicher eine Reihe von Gründen, weshalb er noch nicht mit ihr
gesprochen hatte.
Ich sagte: »Es gibt eine neue
Entwicklung. Ich muß mit Ihnen reden.«
Sie verzog ärgerlich den Mund, trat
aber zurück, hängte die Kette aus und ließ mich herein. Das Apartment war
dunkel und kalt. Amy zitterte in ihrem langen, weißen Frotteemantel. Sie
fummelte am Thermostat der Elektroheizung herum. »Eigentlich ist es ganz gut,
daß Sie kommen«, sagte sie. »Ich muß Ihnen etwas
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