Mord ohne Leiche
mich an, strich mir das Haar glatt und schob den Kragen zurecht. »Ich
wollte dich, seit du bei mir warst und mich von Tracy hast erzählen lassen. Du
hast mich dabei an einer Stelle getroffen, an die schon seit langem niemand
mehr herangekommen war. Und du hast mich dazu gebracht, daß ich an sie gedacht
habe als an die, die sie wirklich war, und nicht an das Idealbild, das ich mir
in meinem Kummer zurechtgelegt hatte. In gewissem Sinn hast du mir meine
Tochter zurückgegeben. Mir Hoffnung gegeben.«
»Und sie dir dann wieder genommen. Auch
die Hoffnung.«
»Nein, tief in meinem Innern habe ich
gewußt, daß sie tot ist. Und die Hoffnung bezog sich auf mich, auf mein Leben
ungeachtet all dieser Dinge.«
Ich versuchte, in seinen Augen zu
lesen, wollte mich vergewissern, daß er wirklich glaubte, was er sagte, aber
ich sah in zwei im Lichtschein glänzende Kiesel. Ich mußte mich fragen, ob er
mir nicht irgendwie eine Schuld —
»Nein«, sagte er, »ich habe keinen
Groll gegen dich, weil du mir die Nachricht überbracht hast. Jetzt nicht und
auch nicht in Zukunft.«
Versprechungen, dachte ich. Wenn wir
nur all unsere Versprechungen halten könnten.
»Laß uns jetzt ins Haus gehen«, sagte
er.
»Ja.«
»Der Psychologe in mir warnt, daß das
hier eine voraussehbare und banale Reaktion auf einen Todesfall ist. Den Mann
in mir kümmert das einen Dreck.«
Die Ermittlerin in mir warnte mich im
gleichen Sinne. Und die Frau in mir kümmerte es ebenfalls einen Dreck.
Im Schlafzimmer des Hausherrn nichts
als Geweihe und Elchfelle, wie George es beschrieben hatte. Irgendwie störte
die geschmacklose Einrichtung nicht. So, wie ich es mir in meiner schüchternen
Hoffnung auf unsere Begegnung ausgemalt hatte, erwies er sich als ein Mann, der
sich mit ganzem Herzen hingab. Es gelang uns, Tod und Tragödie beiseite zu
schieben, während wir uns liebten. Aber Träume waren etwas anderes...
Als ich das erstemal erwachte, warf
sich George in einem Alptraum von einer Seite auf die andere. Ich rüttelte ihn
wach und hielt ihn eine Weile im Arm. Danach schlief er friedlicher. Dafür
geisterten später Bilder von Regen, Wind und Dunkelheit durch meine eigenen
Träume. Das Geräusch des Regens hielt an. Ich wachte auf und merkte, daß er auf
das Dach niederprasselte. Ich streckte den Arm nach George aus, aber er war
nicht da. Als ich mich aufsetzte, sah ich ihn nackt am Fenster stehen und durch
die Scheiben starren, an denen der Regen herunterlief. Ich stellte mich neben
ihn. Er nahm mich in die Arme und preßte mich an sich.
Jenseits des hinteren Zauns waren zwei
Scheinwerfer auf die Hauswand gerichtet. In ihrem Licht schimmerte der Regen
silbern. Die schwarzen Büsche und Bäume bogen sich im Wind. Ich konnte mir
vorstellen, was George vor seinem inneren Auge sah: das einsame Stück Flußufer
und den verfallenen Bootskörper, in dem sie in Nässe und Kälte während so
vieler solcher Regengüsse gelegen hatte — und auch an duftenden Frühlingstagen,
die allem neues Leben verhießen, nur ihr nicht; und an den unbarmherzig heißen
Tagen zweier langer Sommer; an den sich verfärbenden, langsam kühler werdenden
Tagen zweier Herbste.
Als hätte er gemerkt, daß ich seine
Gedanken lesen konnte, sagte er: »Fast zwei Jahre. So lange mußte sie dort
liegen.«
»Ich weiß.«
»Ich dachte, ich hätte allen Kummer
hinter mir. Doch jetzt kommt er wieder.«
»Es tut mir leid, daß ich dorthin
gefahren bin.«
»Das muß dir nicht leid tun.« Er ließ
mich los und nahm mein Gesicht in seine Hände. »Ich hätte es wissen müssen. Und
jetzt habe ich dich, die mir hilft, es zu überwinden.«
»Ich werde alles tun, was ich kann.«
»Dann tu eines für mich — finde heraus,
was passiert ist.«
»Ich versuche es.«
Das schien ihn zufriedenzustellen. Ich
führte ihn zum Bett zurück, und wir liebten uns noch einmal. Danach schlief er
tief, während ich wach lag und über den Tod seiner Tochter nachdachte.
Schließlich sank ich dann doch in
Schlaf und erwachte wieder, noch bevor der Morgen dämmerte. Wieder war er fort.
Ich schlüpfte aus dem Bett. Ich fühlte das rauhe Fell des Bettvorlegers unter
meinen nackten Füßen. An einem geschmacklosen Kleiderständer aus Geweihen hing ein
Bademantel. Ich zog ihn an und ging hinaus auf die Galerie.
Aus dem Wohnzimmer kamen Geräusche — der
Fernseher lief leise. Die Stimme einer Frau, Gelächter. George hockte in einem
der unbequemen Sessel und verfolgte aufmerksam das Geschehen auf
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