Mord und Brand
Gegenüber befand sich eine schmälere Tür, die nur angelehnt war. Dort zog es ihn hin, und er hatte richtig geschnuppert: Dahinter gab es eine kleine Teeküche mit einem Herd und einer echten Karlsbader Kaffeemaschine. Vor ihm stand eine Kanne. Ein Tablett war ebenfalls hier. Darauf befanden sich eine leere Kaffeeschale, ein Teller mit den Resten einer Eierspeise und einer angebissenen Buttersemmel sowie ein Kipferl. Oprschalek schlang Eierspeise und Semmel gierig hinunter und goss sich Kaffee in die Schale ein. Mit langen Schlucken und geschlossenen Augen genoss er das belebende Getränk. Wie lange hatte er in der Früh schon keinen Bohnenkaffee mehr getrunken? Zur zweiten Schale Kaffee aß er das Kipferl, rülpste leise und fühlte sich angenehm gesättigt. Plötzlich hörte er, wie die Sekretariatstür aufgerissen wurde und schnelle, energische Schritte das Zimmer durchmaßen. Eine herrische Stimme erklang:
»Fräulein Pagogna, kommen S’ in den Hof runter und helfen S’ uns, die Verletzten zu versorgen! Wo stecken S’ denn?«
Durch den Türspalt erspähte Oprschalek den Direktor, der sich im Sekretariat umsah, ohne dass er die hinter dem Schreibtisch liegende, bewusstlose Sekretärin bemerkte. Wütend riss er die Tür zu seinem Arbeitszimmer auf, stürmte hinein und rief nochmals laut.
»Fix noch einmal! Fräulein Pagogna, wo stecken Sie?«
Oprschalek stürmte durch das Sekretariat, griff sich im Vorbeilaufen einen gusseisernen Locher, stürzte in das Direktorenzimmer und versetzte dem Direktor damit einen Schlag auf den Schädel. Mit schreckgeweiteten Augen ging dieser in die Knie. Blut rann über sein Gesicht. Dann fiel er vornüber. Oprschalek stand über sein Opfer gebeugt und betrachtete es nachdenklich. Der Mann war groß und schlank. Oprschalek kratzte sich den Vollbart und grinste. Dann begann er den Direktor vorsichtig, ohne die Kleidungsstücke blutig zu machen, auszuziehen: Das Sakko, die Schuhe, die Hose, das Hemd, Hemdkragen, Krawatte und Manschetten. Nach einigem Zögern auch die blütenweiße, offensichtlich heute Morgen frisch angezogene Unterwäsche sowie die Kniestrümpfe. Dann entkleidete er sich selber vollkommen und schlüpfte in das Direktorengewand. Tatsächlich, sein Schneiderauge hatte ihn nicht getäuscht! Unterwäsche, Hemd und Anzug passten ihm vorzüglich, nur die Schuhe waren zu klein. Mit ungelenken Fingern band er sich die Krawatte und richtete mit etwas Spucke seine wüste Frisur. Er tastete nach der Innentasche des Sakkos und zog eine Brieftasche heraus. Grinsend stellte er fest, dass der Herr Direktor über 150 Kronen mit sich herumgetragen hatte. Nun fiel ihm eine gepflegte, lederne Aktentasche auf, die neben dem Schreibtisch stand. Er öffnete sie und entleerte sie über der Tischplatte. Neben etlichen Papieren fiel auch ein dicker Schlüsselbund heraus. Oprschalek sah sich die Schlüssel genau an. Ein kleiner Kerl mit beidseitigen Zacken erregte seine Neugierde.
»Der schaut mir ganz nach einem Tresor-Schlüssel aus…«
Oprschalek musste nicht lange suchen. Hinter dem Bild eines streng blickenden Herrn in altertümlicher Kleidung, wahrscheinlich der Vater oder Vorgänger des jetzigen Direktors, war ein Panzerschrank in die Wand eingemauert. Er nahm das Bild ab und versuchte mit vor Aufregung feuchten Fingern, den Schlüssel in das Schloss zu stecken. Nachdem er zuerst den Schlüssel verkehrt herum angesetzt hatte, schwang schließlich die Tresortür auf. Er war enttäuscht. Auf den ersten Blick sah er nur Aktenordner. Dann fiel ihm jedoch eine elegante Ledertasche auf. Als er sie öffnete, pfiff er leise durch die Zähne. Die Tasche enthielt zehn dicke Bündel mit 100-Kronen-Scheinen, die Oprschalek in der großen, ledernen Aktentasche verstaute. Sein altes Gewand legte er sorgsam zusammen und verschnürte es zu einem Bündel. Dann verließ er das Zimmer. Gemessenen Schrittes stieg er die Treppe hinunter, ein Angestellter stürzte herein und schrie:
»Wissen Sie, wo der Herr Direktor ist?«
Oprschalek nickte und antwortete geistesgegenwärtig:
»Er muss irgendwo auf dem Fabriksgelände sein. Ich komme gerade aus seinem Büro, dort ist er nicht.«
Der Mann schrie »Danke!« und eilte aus dem Gebäude. Oprschalek trat auf den Fabrikhof hinaus. Rings um den Brandherd wurlte 123 es vor Menschen. Mittlerweile waren dort an die zehn Spritzenwägen und über hundert Feuerwehrmänner im Einsatz. Ohne sich noch einmal umzudrehen, schritt er durch die Haupteinfahrt
Weitere Kostenlose Bücher